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Rondo, 17. September 2011
5 Sterne von 5 möglichen Sternen

In der Tat: Diese Senta „spinnt“. Inmitten stöckelschuhbewehrter Schickimickidamen am Wellness-Spa-Pool träumt sie schwarzgewandet wie eine vorgestrige Amish-Frau, am Spinnrad sich die Finger blutig spinnend, von einem entwurzelten, zu ewiger Rastlosigkeit verdammten „bleichen Mann“: Wer sich derart ernst und leidenschaftlich von seiner Oberflächen-Happiness-Umgebung abhebt wie diese Senta, der ist, gelinde gesagt, ein Außenseiter. Das gilt auch für ihren erträumten „Holländer“. Sehnsüchtig suchen beide nach einer besseren Welt, einer wirklichen Heimat – fern aller falschen Hollywood-Zivilisation bzw. Zweiklassen-Gesellschaft.
Kein Zweifel: Wir befinden uns auf einer Bühne Martin Kušejs (und Martin Zehetgrubers, seinem Bühnenbildner). Letztes Jahr gab der Tiefenpsychologe und politische Unruhestifter unter den heutigen Regiegrößen sein Wagner-Debüt in Amsterdam. Es wurde, wie am Mitschnitt minutiös nachzuerleben ist, ein in vielerlei Hinsicht denkwürdiges und aufwühlendes. Und natürlich eines, das alte Wagnerianer (die in Amsterdam, wie dem tobenden Schlussapplaus zu entnehmen ist, offenbar nur wenig vertreten sind) vergrätzen musste: (ausgerechnet in Holland!) kein Schiff, kein Meer (allenfalls in der schwarzweiß untermalten Ouvertüre), kein Hafen, keine Seemanns-Romantik, stattdessen ein steriler Transitraum mit doppelter Glastürfront, später mit Metallgittern, gestrandete, panische Kreuzfahrt-Touristen bzw. Baseballschläger-bewaffnete Fun-Menschen auf der knallbunten „Erste Welt“-Seite, dafür Kapuzen-Terroristen, zusammengepferchte Boat-People und Migranten aller Couleur auf der Elendsseite. „Misstrauen gegenüber der dünnen Kruste der Zivilisation“, „Störung unserer selbstgefälligen Ruhe“: Hier in Amsterdam durfte man fasziniert Zeuge werden von Kušejs Regie-Credo.
Und von dessen nahezu makelloser Umsetzung. Catherine Naglestad‘s Senta begann – gemäß Wagners Leidenschafts-Klimax – zunächst äußerst zerbrechlich, dann grandios aufleuchtend. Juha Uusitalo verkörperte geradezu exemplarisch den Titelhelden: raumfüllend und hochexpressiv sein Bariton, fesselnd seine Mimik, markant sein glatzköpfiger Schädel. Der Kontrast zu Daland (Robert Lloyd als weißbetuchter, stimmlich leider etwas brüchiger, neureicher Kuppler-Vater) war denkbar scharf. Marco Jentzschs tenoral strahlendem Erik oblag es nicht nur, den hoffnungslos Verliebten zu mimen, sondern auch Kušejs Plot umzusetzen und seinem Jäger-Beruf „gerecht“ zu werden: Er erschießt das Traumpaar! Wagners „Erlösung“ einmal anders. Wie auch immer man zu diesem Ein- bzw. Kunstgriff stehen mag: Dieser Amsterdamer „Holländer“ ist ein Meilenstein der Wagner-Diskographie. Nicht zuletzt dank einer überaus kompakten, kraftvollen Orchester- und Chorleistung, mit der sich Hartmut Haenchen als ein hochversierter Wagner-Dirigent empfiehlt.
Christoph Braun