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www.amazon.de, 16. September 2016
5 von 5 Sternen
Von der Illusion eines einzigen Originals und den daraus sich ergebenden Konsequenzen Werktreue umzusetzen
Der Autor, renommierter Dirigent und Wagner Forscher, zeigt exemplarisch an Werken Wagners, Brahms, Mahlers sowie Teilen zeitgenössischer Musik(Reimanns Lear) auf, wie schwierig es in der Praxis ist, an musikalische Werktreue heranzukommen. Ein Aspekt, der sich in der Regel laienhafter Betrachtung entzieht und aus dieser Ebene immer wieder zu Fehlurteilen Anlass gibt.
Das Komponieren war ein Schaffensprozeß, der sich über viele Stationen mit Veränderungen hinzog, kein einmaliger Schöpfungsakt eines Komponisten, wie laienhaft unterstellt.
Mehrere Partituren eines Werkes überlagerten sich in ihren jeweiligen Änderungen, die der Komponist vorgenommen hatte. Übertragungen waren oft fehlerhaft, wurden aber durch Druck potenziert.
Beispiele, besonders an Wagners Musikdramen mit eingehender Interpretation des Dirigenten aus kompositionsstruktureller Sicht.
Mein Resümee:
Die Problematik einer werkgetreuen Partitur ist weit von laienhaften Vorstellungen entfernt.
Intentionen von Werken Wagners wurden durch das rezipierende Publikum, auch weiten Teilen der Fachpresse, mangels Kenntnis der theoretischen Schriften umfunktioniert.
Markantes Beispiel, die alt-wagnerianische Tradition, den mehrdimensinalen Theaterhorizont Wagners, gespeist aus alt-griechischer Tragödie und Shakespeare Bühne, einzudampfen, zum kultisch Völkischen und damit schon von der Idee verfälscht.
Entscheidend die Erkenntnis, das sowohl musikalische Interpretation und inszenatorische Umsetzung immer das Ergebnis gesellschaftspolitischer Entwicklungen war, eine Art interagierendes Kontextgeschehen.
Wenn der Autor den Untergang der humanistisch bildungsbürgerlichen Entwicklung beklagt, so hat er damit recht. Dabei sollte aber nie vergessen werden, dass genau aus diesem Bildungskreis die völkische, nationalsozialistische Bewegung zumindest teilgespeist wurde, das Verbrechen nicht verhindert wurde, ja sogar die menschenverachtende Ideologie gestützt wurde.
Der Autor hat es selbst in der DDR erlebt und führt auch aus, wie Bildungsbürgertum ideologisch verbogen werden kann. Es kann also nur um die Etablierung eines kritisch hinerfragenden, nicht rein affirmativen, Bildungsbürgertums gehen.
Hans-Georg Seidel