Opera

Frankfurter Rundschau, 14. December 2002
Das Neue im Alten

Mozarts "Tito" mit Rezitativen von Manfred Trojahn

Dass dieser Tito eigentlich Sesto heißen müsste, weil Vesselina Kasarova den treulos treuen Freund des Kaisers Titus nicht nur singt, sondern zu einem Schmuckstück geschliffen leuchtenden Gesangs mit Koloraturbrillanz und einer Pianokultur vom Feinsten macht, ist im Amsterdamer Het Muziekteater nicht das einzige Besondere bei Mozarts spätem Ausrufezeichen hinter der Folge seiner großen Opern, das sich zumindest mit seinem Nachleben ziemlich schwer tut. Wohl weil sich Die Milde des Titus, dieses Auftragswerk zur Krönung Kaiser Leopolds II. 1791, nicht von selbst so bei den Nachgeborenen empfiehlt wie die DaPonte Gefühlsauslotungen von Mensch zu Mensch. Huldigungsopern mit zaudernder Güte als Grundton haben es nicht leicht, noch dazu, wenn sie auf den etwas spröden Seria- Typus zurückgreifen. Und in den Rezitativen auch noch absacken, weil die eben nicht mal von Mozart sind.

Der in Holland hochgeschätzte und für die Dresdner Musikfestspiele auch wieder in Deutschland wirkende Dirigent, Hartmut Haenchen, zu dessen künstlerisch prägender Arbeit an der Niederländischen Oper in Amsterdam seit seinem gemeinsamen Start mit dem Hausherrn Pierre Audi Ende der achtziger Jahre immer auch Mozart gehörte, hat hier etwas riskiert. Zwar nicht als erster, aber wohl als erster so radikal. Mit neu komponierten Rezitativen. Fast schon einer zweiten Oper in der ersten. Keinen Geringeren als Manfred Trojahn hat er beauftragt, die Rezitative zu rehabilitieren. Sie als genuine Bestandteile einer sonst verschütteten Stückdramatik zu erschließen, ohne so zu tun, als könnte man Mozart ergänzen oder verbessern. Aus dem mitten in der Bühnenlandschaft wie frei schwebend platzierten Nederlands Kamerorkest, das für diesen Mozart im Opernhaus ohne eigenes Orchester zu Gast ist, erwächst so ein dialogisch fruchtbares Experiment.

Trojahn macht aus den Rezitativen etwas Eigenes, setzt seine eloquente Musiksprache in ein spannungsvolles Verhältnis zu Mozart. Über die Personencharakterisierung durch das Motivische hinaus hat er eine individuelle Instrumentierung an die Figuren gebunden. Für Vitellia schrille Klarinettenklänge, für Sesto (Mozart folgend) das klarinettenverwandte Bassetthorn, für Annio ein Bläserquintett, für Servilla die Flöten, für Tito schließlich das Cembalo, das besonders in der Lage ist, das "Tropfen der Zeit, das mechanische Rattern von Angst" zu verdeutlichen, wie Trojahn meint.

Sicher hat das etwas von kühner Vermessenheit, doch es baut nicht nur auf die "Modernität" dieses Spätwerkes, es funktioniert auch in seiner theatralischen Umsetzung, im ständigen Wechsel zur Originalmusik, erstaunlich gut. Schärft die Dramatik, macht die Absackgefahren zu spannenden Brüchen, die im Untergrund Grummelndes verdeutlichen. Die Struktur der rumorenden Obsessionen, die Tektonik, auch die Fassade der Macht und die schmerzhafte Selbsterkenntnis, die moralischen Gefahren politischen Handelns und der selbstverleugnende Druck, der auch aus der Güte erwächst, wenn sie zur Staatsdoktrin wird. Das hört und sieht man.

Am Ende zeigen alle auf die überehrgeizige Frau Vitellia (Charlotte Magiono), die sich zum Eingeständnis ihrer Schuld geläutert hat, und meinen vielleicht doch eigentlich den Kaiser (die einzige Schwachstelle im glänzenden Ensemble: Jerry Hadley). Regisseur Pierre Audi und sein Bühnen- und Lichtkonstrukteur Jan Versweyveld und Kostümbildner Patrick Kinmonth (der gerade in Köln mit der Ausstattung von Robert Carsens Siegfried-Inszenierung Furore gemacht hat) nutzen die Raumauflösungsmöglichkeiten des modernen Hauses am Waterlooplein exzessiv, umbauen das auf Bühnenhöhe platzierte Orchester mit einem halben Dutzend gelber, höhenhierarchisch und in die Tiefe des Raumes gestaffelter Container, die mit Treppen und Stegen verbunden sind. Räume, in denen jeder für sich ist und doch alle zusammenhängen.

Wie in den Kostümen, die abstrakt parabelhaft wie Mauerteile wirken, von denen sich nur einige, meist die der starken Frauen, mit kreisrundem Dekor absetzen. Eine szenisch Analyse von so unaufdringlicher Klugheit wie kalkulierter Theaterwirksamkeit. Audi weiß nach über einem Dutzend Amtsjahren auch als Regisseur mit seinem Hause umzugehen. Und derart aufgelöste Raumstrukturen fügen sich deshalb zu einem erstaunlich offen transparenten und dennoch nicht auseinanderfliegenden Klang, weil Hartmut Haenchen wie kein anderer mit den akustischen Eigenheiten des Hauses umzugehen weiß. Und so folgt man mit ungebrochener Spannung und voller Neugier im harmonisch- spannungsvollen Wechsel von Mozart und Trojahn dem exzellenten Ensemble, zu dessen Überzeugungskraft auch Ofelia Sala (Servillia), Hana Minutillo (Annio), Tómas Tómasson (Publio) ihren Mozart- und Trojahn-Beitrag leisten.

Joachim Lange