Opera

Süddeutsche Zeitung, 05. December 2002
Auf der Mozart-Baustelle

Manfred Trojahns neue Rezitative für den "Tito" in Amsterdam

Die einen entzückt es als musikalisches Meisterwerk, die anderen verschreckt es als gestelzt lederner Bühnenkränkling, dem das höfische Opera-Seria-Korsett die Luft abschnürt: Mozarts vorletzte Oper, "La clemenza di Tito". Mozarts Schüler Süßmayr soll die Secco-Rezitative komponiert haben, in fieberhafter Eile kurz vor der Uraufführung dieser Krönungsoper für Leopold II. in Prag. Steif und undramatisch sind diese Rezitative, sie bringen die Handlung eher ins Stocken. Heute lässt man sie manchmal weg, weil Versuche, sie zu ändern oder zu ersetzen, unbefriedigend blieben. Einschneidenderes wurde jetzt an der Nederlandse Opera Amsterdam gewagt: Der Komponist Manfred Trojahn hat die Rezitative neu geschrieben.

Für die Wahl Trojahns dürfte gesprochen haben, dass er zu jenen gehört, die vom reinen Fortschrittsglauben in der Musik nie viel hielten. In "Tito" ersetzt er die asketisch dünne Basso-Continuo-Begleitung durchs Orchester, aus dem er immer wieder einzelne Instrumentalgruppen heraustreten lässt. Gespenstisch dahinjagende Cembalo-Schraffuren, an Ligetis "Continuum" erinnernd, werden zur wiederkehrenden Chiffre des nahenden Untergangs, stimmungsverdichtende Bläserfiguren lösen sich in einfache, friedvolle Kantilenen auf.

Musiktheaterwirksam ist das durchaus, zumal ins Erzählerische stets auch Klangpsychologisches einsickert. Trojahn verbindet handwerklich geschickt Vergangenheit mit Gegenwart, da findet sich Barockes, ein vorüberhuschendes Bild aus Mussorgskys "Ausstellung", die Motorik eines Schostakowitsch und sogar die Demonstration, dass Trojahn wie Britten Zwölftonmusik schreiben kann, die tonal klingt. So kann er Schnittschärfen zwischen Rezitativ und Arie aufweichen und das stilistische Spannungsgefälle für die Sängern verringern, auch wenn er insgesamt zu einer dekorativen Nervosität tendiert. Trotzdem bleibt die Kontrastwirkung zwischen alt und neu, Arien und Rezitativen. Konfrontation ist gewollt, weil sie in ihrer Zweideutigkeit Spannung und Bewegung schafft, weil sie Anspannung, Druck und Zerrissenheit der auf uns fremd wirkenden Figuren einer fernen Römer-Intrige vergegenwärtigt. Zuweilen aber erzeugt der äußerlich veranlasste Wechsel zwischen zwei Idiomen eine falsche Bedeutsamkeit von Geheimnis, Abgründigkeit.

Dass diese Doppelleben-Menschen, die da nun in zwei Musiksprachen denken und fühlen, gleichwohl überzeugen und fesseln, verdankt sich entschieden der Regie von Pierre Audi und der in eine vage Zukunft verlegten Bühnenszenerie von Jan Versweyveld. Da finden sich luftig in Raum und Höhe verteilte Bauklotz-Stelzencontainerhäuschen, die das sich lockernde Seria- Gefüge von Mozarts Werk genauso versinnbildlichen wie diese neue Version. Zentrum ist die atemberaubende Vesselina Kasarova als verführter junger Sesto sowie das ins Bühnenzentrum gerückte, auf große Orchesterstärke aufgestockte Nederlands Kamerorkest, brillant dirigiert von Hartmut Haenchen, der dem Mozart-Trojahn-"Titus" den leuchtenden Zukunftshorizont schenkt.

Svenja Klauke