Opera

Westdeutsche Allgemeine Zeitung, 08. November 2001
Es ist viel Unheil in der Welt

Von Michael Stenger

WAZ Amsterdam. Nicht einmal ein Dutzend Opern, die nach 1945 entstanden, haben sich im Repertoire gehalten. Aribert Reimanns "Lear" gehört dazu. Die Essener Produktion war eindrucksvoll. In Amsterdam ist nun eine der packendsten Deutungen dieses Meisterstückes zu bewundern.

Diese Koproduktion der Nederlandse Opera, die nach wie vor eine Spitzenposition im europäischen Verbund behauptet, und der Dresdner Semper-Oper ist bezwingend, weil die Szene die Musik so holzschnittartig genau spiegelt und weil diese Musik, die zwischen zwölftöniger Strenge und expressiver Freiheit ein breites Spektrum entwickelt, auf so fulminante Weise bis an die Schmerzgrenze geführt wird.

Willy Decker ist der Regisseur, dessen Dresdner Inszenierung nun Meisje Hummel neu einstudiert hat; Wolfgang Gussmann hat ihm gar nicht pompös eine karge Bühne geschaffen. Mit wenigen Requisiten als Symbolen: ein Tisch, eine Weltkugel, Zepter und Krone. Zunächst auf Menschenmaß, dann überdimensional, denn die Machtgier, um die es bei Shakespeare ja geht und die der Librettist Claus H. Henneberg so scharf herauskristallisiert hat, lässt die Menschen kleiner werden. Sie sitzen auf riesigen Stühlen, tanzen unter einer riesigen Krone ein böses Ritual des Mordes.Und Decker, der immerhin Bayreuth eine Absage erteilte, zeigt eine uniforme Gesellschaft, die sich verrenkt, um alles zu besitzen, die mit perverser Lust quält und tötet. Die Verrückten heben sich ab: der König, der Narr (wie ein Clown gewandet), der verstoßene Edgar mit seiner Hütte. Sie sind Außenseiter.

Das alles kann man nur mit einem Ensemble von Sängerdarstellern deutlich machen. Und da geizt Amsterdam traditionsgemäß nicht: Die bösen Töchter (Isoldé Elchlepp als Goneril und Rita Cullis als Regan) sind hochdramatisch charakterscharf; Gabriele Fontana als gute Tochter Cordelia findet zu einer Klarheit ohne Schärfen. Der Contratenor David Cordier, auch der Edgar in Essen, spiegelt auch sängerisch den gespielten Wahn. Der Essener Lear gibt hier den Herzog von Albany: Tomas Möwes mit raumgreifender Präsenz.

Hermann Becht als Gloster und John Bröcheler als Lear: Sie zeigen außergewöhnlich eindringlich Opfer der Macht. Becht hat immer noch staunenswerte Kraftreserven. Bröcheler bietet in der Titelpartie ein kaum zu überbietendes Maß an Intensität. Zwischen Sturmgesang und Klage, zwischen Resignation und Aufbegehren - Bröcheler stürzt sich hinein in die Rolle des umnachteten Königs und bietet mit vielen vokalen Nuancen eine der besten Lear-Deutungen seit der Uraufführung der Oper 1978.

Und am Pult der fulminant auftrumpfenden, überragend perfekten Niederländischen Philharmoniker bestreitet Hartmut Haenchen, nun wirklich einer der besten Dirigenten seiner Generation, seine 50. Premiere am "Muziektheater".

Sein "Lear" ist für mich bislang der bohrendste, der packendste: mit härtestem Schlagzeug-Prasseln, Fortissimo-Bläserfanfaren, mit einem bis zur Kammermusik geführten, nervös vibrierenden Streichersatz. Haenchen ist dicht am Puls dieser Musik, die Verstand und Gefühl anspricht, die in ihrer schreienden Kraft gegen das Unheil in dieser Welt so berührend zeitlos bleibt.

Großer Jubel in Amsterdam; großer Jubel auch für den anwesenden Aribert Reimann.