Opera

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 20. March 2011
Jetzt kommen wieder diese Tage, an denen man sich leicht parsifallig fühlt. Ein bisschen rollig, etwas kribbelig, etwas Kopfweh. Selbst die vernünftigsten Menschen kommen zu spät, verlegen ihre Schlüssel, schießen Böcke oder auch mal einen Schwan, und aus den Baumärkten brüllt es, dass wir unbedingt viele bunte Samentütchen kaufen sollen. Karfreitagszauber kündigt sich an.

Die glücklichen Brüsseler haben das für dieses Jahr schon hinter sich, dort am Munt-Theater war Wagners "Parsifal" bereits im Februar abgespielt, in einer spektakulären Neudeutung von Romeo Castellucci, dem italienischen Brot-und-Spiele-Regisseur, der bekannt wurde, nachdem er sich in Avignon bei Dantes "Inferno" live von einer Hundemeute hatte zerfleischen lassen. Castellucci erzählt keine Geschichten, er will, dass das Theater weh tut. Aber zum Glück für das Stück bleibt ja vom "Parsifal", den ganzen alten Mythen- und Riten-Kompost einmal abgezogen, sowieso keine sinnvolle Geschichte übrig: Junger Mann sucht Anschluss in Sektenclique, wird verjagt. Geht ein Haus weiter in den Puff, wo er besser klarkommt, den Chef umbringt und den Laden übernimmt. Im dritten Akt ist dann Ostern, und alle sind erlöst und fröhlich oder tot.

Das geht im Dunkeln los. Nur der Dirigentenstab von Hartmut Haenchen blinkt als Glühwürmchen aus dem Graben, in unendlicher Verzögerung lässt er das bebende Unisono aufsteigen. Haenchen ist zurzeit der detailgenaueste und sinnenfreudigste Wagnerdirigent überhaupt, alles wird weich und klar unter seinen Händen. Während des Vorspiels kriecht eine weiße Schlange über den Zwischenvorhang, kriecht Friedrich Nietzsche ins Ohr hinein. Und schon tut sich dahinter der Wald auf: der dichteste und wildeste und echteste deutsche Märchenwald, den je ein Bühnenbildner erschaffen hat. Baumriesen fallen um in Zeitlupe, Nebelgeister gehen um, hinter der Lichtung am Bühnenrand muss gerade ein Ufo gelandet sein, es dampft und leuchtet.

"He! Ho! Waldhüter ihr, Schlafhüter mitsammen", ruft es aus dem Unterholz. Wie sich dieser Wald, als dann am Ende des Aufzugs der Time Warp stattfindet und die Verwandlungsglocken tönen, innerhalb von Sekunden in Luft auflösen kann, ist ein Wunder der Technik. Übrig bleibt ein erschöpftes Häuflein von Gralskriegern in grünen Tarnanzügen. Sie häuten ihren Anführer Amfortas, legen erst die Muskelschichten frei, dahinter die Eingeweide, dann die Knochen, dann das Nichts. Aus dem Inneren des Menschen steigt eine Wolke auf, eine nihilistische, böse Fliegenwolke, die alles und jeden verschlingt.

Nach dem Wesen des Krieges zeigt uns Castellucci im zweiten Akt das Wesen der Liebe. Sie setzt sich zusammen aus Gewalt und Gift. "Seid ihr denn Blumen?", fragt Parsifal all die schönen, schneeweißen Schaufensterpuppen. Nein, sie sind Schlangenmenschen, sind gummiartig biegsame Würmer, die nackt zu Paketen geschnürt und an Fleischerhaken aufgehängt werden. Eine hat nicht mal einen Slip an. Sie legt sich rücklings auf einen Hocker, spreizt die Beine und hypnotisiert die Leute im Parkett minutenlang mit ihrer Klitoris. Keiner empört sich. Es ist die achte Vorstellung des "Parsifal" in Brüssel. Aber es wagt auch nicht einer, sein Opernglas zu benützen.
Eleonore Büning