In den letzten 10 Jahren haben Sie vielmals Wagner dirigiert, (Parsifal am meistens aber auch den Ring und Fliegende Holländer), aber kein Tristan und Isolde. Wann haben Sie Tristan zum letzten Mal dirigiert?
Tatsächlich habe ich "Tristan und Isolde" im Verhältnis zu 34 kompletten "Ring"-Zyklen und 60 "Parsifal"-Aufführungen weniger dirigiert. Ich hatte das Glück für meine erste Produktion dieses Werkes das Königliche Concertgebouw Orchester und Deborah Polaski mit ihrem Isolde-Debut zu haben. Danach habe ich es in Leipzig mit dem Gewandhausorchester in der Regie von Willy Decker dirigiert. Das war aber 2002.
Und hat sich etwas in Ihrer Konzeption geändert?
Als ich das Werk zum ersten Mal dirigierte, hatte ich noch nicht die wissenschaftliche Ausgabe der Wagner-Gesamtausgabe zur Verfügung. Damals war der Erstdruck noch die einzige Quelle. Für die Produktion in Leipzig habe ich dann mit Hilfe meiner Familie und der meines langjährigen Assistenten Walter Althammer, der auch in Lyon mit mir arbeiten wird, auf der Grundlage der wissenschaftlichen Ausgabe ein eigenes Orchestermaterial angefertigt, welches wir auch in Lyon verwenden werden. Glücklicherweise sind uns viele Probenaufzeichnungen der Hauptsänger und Assistenten überliefert, die wir als letzten Willen zum Werk von Wagner betrachten können. Insofern ist seit meiner ersten Produktion 1988 sehr viel am Konzept verändert. Sehr intensiv habe ich mich in den letzten Jahrzehnten auch mit den Tempofragen auseinandergesetzt. In meinen Büchern „Werktreue und Interpretation“ habe ich das ausführlich dokumentiert und für meine Lyoner Solisten und das Orchester habe ich spezielle Bemerkungen aus der Aufführungspraxis in Wagners Zeit zur Vorbereitung bereits formuliert.
Sie haben Elektra mit großem Erfolg in Toulouse in 2010 dirigiert. Was gefällt Ihnen an dieser Partitur?
„Elektra“ ist Richard Strauss’ radikalste Partitur und sein Vorstoß in die moderne Musik. Das fasziniert mich immer wieder. Und es gibt keine Oper, die ein – bis zum Auftritt des Orest – durchkomponiertes Accelerando hat. Das ist atemberaubend und für den Dirigent auch atembenehmend im wahrsten Sinne des Wortes.
Ist hier auch etwas in Ihrer Konzeption geändert?
Bei der Produktion von Ruth Berghaus, die ja am Uraufführungsort nach der Wiedereröffnung der Semperoper in Dresden realisiert wurde, hatte ich die Gelegenheit in die Uraufführungspartitur und die Uraufführungsstimmen Einsicht zu erhalten und die Ergebnisse und Korrekturen von Strauss in mein Orchestermaterial zu übernehmen. Dinge, die nirgendwo gedruckt sind. Viele wichtige Details, die das Werk noch einmal verbessert haben.
Sie haben den Ruf, sehr aufmerksam bei der Erarbeitung der Partituren zu sein und immer bereit zu sein, so nah wie möglich an die Absichten des Komponisten zu gehen, manchmal gegen die installierten Traditionen.
Gibt es solche Probleme in Tristan und Elektra? Können Sie uns einige Beispiele geben?
Wie ich oben andeute: In „Tristan“ hat Wagner in späteren Probenprozessen Änderungen an seiner eigenen originalen Partitur (die so fast immer überall aufgeführt wird) angebracht. Diese versuche ich mit den Solisten und dem Orchester umzusetzen. Das betrifft zum Beispiel zahlreiche Textstellen, die er mehrfach verändert hat (oftmals zurück zu seiner ursprünglichen Idee), das betrifft vor allem auch die Dynamik im Orchester, die seiner Anforderung der Textverständlichkeit Rechnung trägt. Ähnliches lässt sich von Richard Strauss sagen. Da ist an einigen Stellen zum Beispiel die Instrumentation reduziert oder die Dynamik verändert.
Woher kommt Ihre musikologische Anforderung? Von Ihrer langen Verbindung mit dem barocken Repertoire?
Nein. Meine Anforderungen sind grundsätzlicher Art bei jedem Werk, dass ich die Partitur hinterfrage. Ist dies der letzte (überlieferte) Wille des Komponisten oder können wir mehr wissen, was der Komponist in späteren Arbeitsprozessen deutlicher von seinen Absichten gemacht hat. Hinzu kommt, dass im Laufe der Jahrhunderte Notation und Ausführung sich verändert haben. Oftmals neigen wir heute dazu, mit den Aufführungstraditionen des 21. Jahrhunderts frühere Werke aufzuführen. Das muss man zu unterscheiden wissen.
Was denken Sie von dem Konzept des Festival "Mémoires", wo Regie (Berghaus, Müller, Grüber) die das Publikum, vor 20 oder 30 Jahren schon beeindruckt hat, wieder auf der Bühne gezeigt werden sollen. Sie waren der Dirigent der Premiere der Berghaus-Elektra. Sie sind jetzt der Dirigent der Wiederaufnahme in Lyon 30/31 Jahre später. Als Sie die Nachricht dieser Wiederaufnahme erfahren haben, war es eine Überraschung? Was haben Sie empfunden oder gedacht?
Serge Dorny hatte mit mir in und für Dresden ein ausführliches Gespräch geführt, wo er auch die Idee formulierte, großartige Produktionen der Vergangenheit mit heutigen Augen noch einmal zu betrachten. Was erzählen sie uns heute und können sie auch Anregung für neue Produktionen sein. Die Heiner Müller – Produktion war einer seiner Wünsche. "Elektra" habe ich ihm vorgeschlagen, da ja Lyon keinen Orchestergraben für eine "Elektra"-Besetzung hat und somit das Werk auch da erklingen kann, weil das Orchester auf die Bühne gebracht ist.
Haben Sie Tristan und Isolde von Heiner Müller in Bayreuth oder als Video gesehen? Wenn Ja, wie empfinden Sie diese Inszenierung in Verbindung mit Ihren Ideen über Tristan?
Ich kenne nur das Video. Eine stilisierte Produktion, die der Musik unglaublich viel Raum gibt. Aber es ist immer schwierig, in eine fertige Produktion „einzusteigen“, wo eine grundsätzliche Zusammenarbeit mit dem Regisseur nicht möglich ist.
Sie haben viele Produktionen (z.B Parsifal in Paris) dirigiert, die vom Publikum oder von der Presse sehr scharf kritisiert wurden. Wie arbeitet man mit dem Regisseur? Was ist wichtig in der Arbeit, um eine Harmonie zwischen Regie und Dirigat zu finden?
Eigentlich habe ich von wenigen Ausnahmen abgesehen, mit allen Regisseuren, die das Werk als solches akzeptieren, hervorragend zusammengearbeitet. Ich bin auch neugierig nach neuen Sichtweisen, solange die Regisseure ein Werk nicht grundsätzlich ad absurdum führen oder wenn der Regisseur den Text nicht einmal kennt. Von der Musik ganz zu schweigen. Aber wie gesagt, das sind einige wenige Ausnahmen. In Lyon wird das nicht passieren. Eine der Produktionen ("Elektra") habe ich selbst mit aufgebaut, auch die Grundidee mit dem Turm und dem Orchester auf der Bühne entstand aus einer Idee von mir, da das wiederaufgebaute Opernhaus in Dresden, den zu kleinen Orchestergraben von vor Richard Strauss’ Zeiten hatte. (Was inzwischen wieder umgebaut ist).
Das Interview führte Guy Cherqui