Interview-Verzeichnis (alle)

12. Dezember 2019 · Buch: Mozart interpretieren, Hrsg. Stephan Mösch, -Metzler-Bärenreiter 2020

Mozart interpretieren

Beitrag zum Buch: Mozart interpretieren

Markus Thiel im Gespräch mit Hartmut Haenchen

In: „Mozart interpretieren“ Hrsg. Stephan Mösch

Sie sind bekannt für ein extrem gründliches und ausgiebiges  Quellenstudium. Besitzen wir durch dieses Primärmaterial eine vollumfängliche Sicherheit, wie Mozart heute korrekt aufgeführt werden sollte?

Nein. Weil wir nicht wie zum Beispiel im Falle von Wagner oder zu einem gewissen Grad von Bruckner wissen, was Mozart in den Proben noch geändert hat. Aus Berichten der damaligen Sänger des „Don Giovanni“ geht hervor, dass manches zum Teil noch zwischen den Vorstellungen modifiziert wurde. Aber dafür gibt es keine detaillierten schriftlichen Dokumente. Wir können also nicht genau sagen, was der letzte Stand ist. Nehmen wir nur die Prager und die Wiener Fassung des „Don Giovanni“. Bei letzterer ist nicht klar, wie sie eigentlich ausgesehen hat. Das gedruckte Libretto stimmt nicht mit dem überein, was in der Partitur steht. Ich glaube dem Libretto nicht unbedingt, weil es eine ganze Zeit vorher gedruckt werden musste. Abgesehen davon denke ich, dass wir heute eine etwas enge Einstellung zur Mozart-Interpretation haben. Ich habe mich zum Beispiel mit Mozarts Arien-Verzierungen für Aloysia Weber beschäftigt. Die stehen nicht im eigentlichen Notentext, er gab ihr aber schriftliche Anweisungen sozusagen als Übung im Verzieren. Ein erst von mir erstmals veröffentlichtes Beispiel sind die 12 Kadenzen zu Arien von Johann Christian Bach. Eine Beispielsammlung von Kadenzen. Und interessanterweise schreibt er für die gleiche Kadenzstelle, verschiedene Kadenzen zur Auswahl. Bei der Einspielung von Konzertarien von Mozart mit Christiane Oelze haben wir teilweise davon Gebrauch machen können. Wir können davon ausgehen, dass die Sänger teilweise jeden Abend etwas anderes erfunden haben. Unser Begriff von Authentizität ist also ein bisschen festgefahren. Wir können es auch kaum ertragen, wenn Sarastro in seiner „Hallen-Arie“ am Ende das tiefe E singt. Vielleicht hatte sein damaliger Sänger diesen Ton ja nicht. Von der Linie wie Mozart es im Orchester schrieb, liegt er aber auf der Hand. Es gibt in der Wiener Klassik auch  instrumentale Begrenzungen, sodass oktaviert werden musste – obwohl das musikalisch eigentlich keinen Sinn ergibt. Ich versuche aber immer, die musikalische Idee zu sehen. Ich instrumentiere nichts um. Allerdings dort, wo man heute bestimmte Töne spielen oder singen kann, lasse ich das auch zu.

Mozarts Arien waren Maßanfertigungen für seine Sänger. Bedeutet dies, dass man sie heutigen Solisten anpassen darf?

Ja. Ich habe das zum Beispiel am Royal Opera House in London beim „Don Giovanni“ so gehalten. Ich lege großen Wert auf die notwendigen Verzierungen, überhaupt auf gewisse Freiheiten, die nicht notiert sind. Und ich lege Wert auf Rubato – auch wenn jetzt viele Puristen um Hilfe rufen werden. Offensichtlich haben diese Menschen aber Mozarts Briefe nicht gelesen. Dort beschreibt er das Rubato ausdrücklich und wie er es erzielt. Was mich besonders irritiert bei heutigen Mozart-Interpretationen: dass fast alle Noten-Vorschläge falsch ausgeführt werden. Ich bin ein großer Mahler-Verehrer und habe mich sehr mit ihm beschäftigt. Deshalb weiß ich, dass er in Wien aus Unsicherheit bei Appogiaturen und Vorschlägen verfügt hat: Wir machen alle Vorschläge kurz und Appogiaturen, die nicht ausgeschrieben sind, lassen wir weg. Seitdem herrscht in diesen Dingen ein vollständiges Chaos. Mozart wird in dieser Beziehung vollkommen falsch ausgeführt. Und das greift tief in die Substanz seiner Musik ein. In meinen Büchern habe ich einmal die relevanten originalen Quellen zusammengetragen und so kann man an zahlreichen Beispielen sehen, wie es eigentlich sein müsste. Plötzlich sind bei den Sängern die Worte nicht mehr falsch betont und für die Instrumentalisten kommt eine große Kantabilität zum Vorschein.

Also müssten Sie im Grunde den Begriff Authentizität ablehnen.

So ist es. Ich mag ihn schon deshalb nicht, weil es auch kein authentisches Publikum gibt. Ich spiele nicht für ein historisches Publikum. Es gibt Dinge, die heutige Zuhörer aufgrund ihrer Vorbildung, ihrer Gewohnheiten und ihrer Lebensweise gar nicht verstehen können.

Muss man also gewisse musikalische Details bewusster hervorheben, um sie zu verdeutlichen? Eine Art dozierende Interpretation?

Dozieren klingt mir zu negativ. Verdeutlichen ja – auch wenn das zum Beispiel im Falle der Bach’schen Zahlensymbolik gar nicht geht. Aber sonst wären gewisse Hervorhebungen durchaus angebracht. Oder nehmen wir nur die Hörgewohnheiten: Eine Orchesterbesetzung wie bei der Prager Uraufführung des „Don Giovanni“  wäre im großen Haus von Covent Garden unsinnig. Deshalb stehe ich in manchen Dingen der sogenannten historischen Aufführungspraxis sehr kritisch gegenüber.

Rangiert für Sie demnach das Pragmatische vor dem historisch Belegten?

Vieles kann man nicht mehr beweisen. Aber aus dem Kontext sind viele Dinge zu erahnen.

Unabängig von den Voraussetzungen an den jeweiligen Aufführungsorten sind für mich bestimmte Dinge nicht verhandelbar. Das betrifft die Frage des Vibratos, aber auch Bogenführungen sowie Artikulations- und Phrasierungsfragen. Ich höre in Mozart- und Beethoven-Aufführungen oft Phrasierungen, die es gar nicht gibt. In der heutigen Orchesterpraxis werden zum Beispiel große Vortragsbögen immer an derselben Stelle geteilt. Beim Beethoven’schen Aufbau 4,4,4,2 ist das eine Katastrophe, weil ich die Struktur damit zerstöre. weil durch hörbare Bogenwechsel, die nicht mit der Phrase übereinstimmen ein anderer musikalischer Aufbau erklingt. Ich lasse solche Stellen mit unterschiedlichen Bogenstrichen spielen, wie es damals auch gemacht wurde.

In der Klangbalance versuche ich mich schon, an den Möglichkeiten historischer Instrumente zu orientieren. Manchmal mische ich auch historische mit modernen. Bei den Streichern vertrete ich bewusst provokant den Standpunkt: Man kann mit modernen Instrumenten, sogar mit modernen Bogenhaltungen alles erreichen, was auf historischen möglich ist – und noch mehr. Das gerade habe ich ja 34 Jahre lang mit meinem Kammerorchester Carl Philipp Emanuel Bach unter Beweis gestellt. Außerdem: Denken Sie nur an die Kammermusik. Da stammen zum Beispiel die besten Quartett-Interpretationen nach allgemeiner Meinung von Formationen, die auf modernen Instrumenten spielen. Kaum einer, auch nicht die veröffentlichte Meinung, drängt hier auf alte Instrumente. 

Kleben Instrumentalisten und Sänger in Mozart-Aufführungen am Überkommenen, weil sie es sich damit einfach machen wollen – und sich Freiheiten nicht zutrauen?

Ja. Zu dieser Freiheit zu ermuntern, ist eine ganz schwierige Angelegenheit. Bei Instrumentalisten noch problematischer als bei den Sängern. Ich habe zum Beispiel beim Londoner „Don Giovanni“ wie bei der Uraufführung mit zwei Cembali gearbeitet. Und nicht mit einem Hammerklavier, das ist heutzutage wie eine Pest. Wer ein solches verwendet, verzichtet nämlich automatisch aufs Cello. Mozart aber hat in den Rezitativen immer Cembalo mit Cello und eventuell Kontrabass gekoppelt. Dazu kommt dann noch ein weiteres Instrument, das Orchester-Cembalo. Damit kann man wunderbare Effekte erzielen. Erwin Schrott, der den Don Giovanni schon zig-mal gesungen hat, sagte mir: „Das ist unglaublich, ich komme bei der Kavatine geradezu ins Schweben.“ Voraussetzung für jegliche interpretatorische Freiheit bleibt aber immer das Quellenstudium. Für mich bestand seinerzeit in der DDR die Möglichkeit, in die unglaublich gute Dresdner Landesbibliothek zu gehen. Kopierer gab es nicht, also habe ich alles auf Karteikarten notiert. Mit der Zeit kam eine Sammlung von rund 5000 Karten zusammen, die mir noch immer bei aufführungspraktischen Fragen helfen. Deswegen irritiert mich fürchterlich, dass gewisse Dinge in der historischen Praxis so gesetzt und dogmatisch geworden sind.

Was irritiert sie am meisten?

Nehmen wir das angebliche Sempre-Non-Vibrato-Spiel. Das ist vor dem Hintergrund der wissenschaftlichen Belege Unsinn. Seit 1600 lässt sich Vibrato sowohl bei Sängern als auch bei Instrumentalisten nachweisen. Hören Sie sich nur die Knabenchöre aus den Fünfzigerjahren an, die sangen mit natürlichem Vibrato. Johann Krüger suchte die Knabenstimmen für seine Kantorei nach der Schönheit des Vibratos aus.

Für viele ist auch Phrasierung gleichbedeutend mit Artikulation, da gibt es allerdings einen feinen Unterschied. Außerdem hat sich die Notation geändert, auch wenn sie heute noch aussieht wie damals. Mozart schreibt an vielen Stellen „tenuto“ – um hier eine Ausnahme zu verdeutlichen. Wenn er dies etwa über die letzte Note eines Bogens schreibt, dann soll diese also nicht abgezogen werden wie sonst üblich. Er meint aber nicht, dass sie verlängert werden soll – so wie wir es heute verstehen würden. Zugegebenermaßen sind die Orchestermusiker heute viel gebildeter in solchen Fragen als vor fünfzig Jahren, nur manchmal wird dieses Wissen eben nicht angewendet. Abgesehen davon wird gern an einem wie auch immer erkannten und erforschten historisierenden Stil festgehalten. Als ob dieser ab einer bestimmten Jahreszahl eingesetzt habe. Dabei kann man Aufführungspraktisches immer nur aus einem historischen Kontext erkennen.

Es gibt also nicht nur eine Mozart-Praxis.

Das meine ich damit. Und das haben wir noch nicht vollständig begriffen. Wir spielen ja heute den „Fliegenden Holländer“ nicht wie die „Götterdämmerung“, bei Wagner hat sich dieses Bewusstsein durchgesetzt. Man muss jedes Stück aus seiner Entstehungszeit begreifen: „Mitridate“ darf ich nicht so aufführen wie den „Don Giovanni“. Das Spannende bei Mozart ist zum Beispiel der Einfluss der Bach-Söhne, der später von Bach Vater überlagert wird. In diesem Zusammenhang ist die Problematik des historischen Kammertons immens wichtig. Den gibt es de facto nicht. Mozarts Stimmgabel und auch die Händels hat eine höhere Stimmung als die heute als historisch verstandene. Im 18. Jahrhundert gab es europaweite Unterschiede. Warum also die angebliche historische Stimmung von 415 Herz? Reines Business. Bei dieser Stimmung kann man ein Cembalo relativ einfach um einen Halbton verschieben. Eigentlich ist auch London daran schuld, wo es eine ganze Reihe von Originalinstrumenten-Ensembles gab und gibt. Jedes trug und trägt einen anderen Namen, weil sich jede Plattengesellschaft eine eigene Formation gönnen wollte. Doch eigentlich wanderten oft die immer gleichen Musiker weiter. Und dies alles musste kompatibel sein – also mussten die Nachbauten der historischen Instrumente auf einen gemeinsamen Kammerton geeicht werden. Früher ging jeder in seine Kirche. Das individuelle Tonarten-Gefühl hing immer von der Stimmung der jeweiligen Orgel ab. Also müssen wir  heutige Zuhörer in ihrer gewohnten Stimmung abholen. In einer, die sie als normal empfinden – und damit nicht Don Giovannis d-Moll plötzlich als cis-Moll hören müssen. Nur aus dieser Gewohnheit heraus begreift und hört man die Spannungsverhältnisse der Tonarten.

Gerade deshalb führe ich Mozart konsequent in unserer heutigen Stimmung auf.

Sie wurden in der DDR einmal von den Händel-Festspielen ausgeschlossen, weil sie nicht der „schlichten Interpretation“ gefolgt seien, so drückte man es damals aus. Ist also die historische Aufführungspraxis in der DDR auch aus einem politisch-gesellschaftlichen Impetus heraus entstanden? Eine Opposition gegen das musikalische System?

Ja. Derjenige, der mir das vorgeworfen hat, war Werner Rackwitz, damals stellvertretender Kulturminister und später Intendant der Komischen Oper Berlin. Er hat seine Dissertation zum Thema „Händel und die Arbeiterklasse“ geschrieben. Und er glaubte damit nachweisen zu können, dass diese Musik ideal für die Arbeiterklasse sei, weil sie angeblich so einfach ist. Ich hatte seinerzeit im Alter von 23 Jahren ganz kühn mit Händels „Messias“ in Halle debütiert. Meine Diplomarbeit hatte ich über vokale Verzierung geschrieben – und das wollte ich nun zum Klingen bringen. Der andere Grund, warum ich ausgeschlossen wurde: Ich hatte beim „Messias“ nicht die DDR-offizielle Übersetzung von Johanna Rudolph verwendet, die das Religiöse fast eliminiert hatte. So gesehen war das ein zweifacher politischer Skandal. Eine andere Aufführungspraxis wurde damals als Provokation empfunden. Von staatlicher Seite wurde sie eigentlich erst in den 80er-Jahren anerkannt, als zum Beispiel die Berliner Akademie für Alte Musik mehr oder weniger unbehelligt ihre Arbeit aufnehmen konnte.

Welche anderen Wege hat damals die Mozart-Pflege in der DDR beschritten im Vergleich zum Westen?

Es gab nur ganz kleine Nischen an wenigen Orten. Das hatte etwas von einem Geheimclub. In die landläufige Aufführungspraxis sind diese Bestrebungen eigentlich nicht eingedrungen. Auch das fand erst in den 80ern statt, als sich zusätzlich einige Spezialchöre und Ensembles damit beschäftigten. Das wurde auch nie finanziell gefördert. Es sollte einmal ein internationales Heinrich-Schütz-Fest in Dresden stattfinden, das aber von staatlicher Seite lange boykottiert wurde. Bis sich der Kreuzkantor Rudolf Mauersberger vehement dafür einsetzte und zum Beispiel Fördergelder vom Bärenreiter-Verlag kamen.

1980 übernahmen Sie das Kammerorchester Carl Philip Emanuel Bach. Sind nicht auch Sie mitschuldig daran, dass die Wiener Klassiker immer weniger von den großen Symphonieorchestern gespielt und den Experten überlassen werden?

Zu meinem Leidwesen gibt es diese Entwicklung. Ein großes Symphonieorchester ist aber ohne Haydn und Mozart verloren. Ich übernahm das Kammerorchester seinerzeit, als es ein Spezialensemble für Neue Musik war und eine Formation der Deutschen Staatsoper, Berlin. Doch das, was wir spielen wollten, durften wir nicht aufführen. Und das, was wir sollten, wollten wir nicht. Deshalb haben wir uns anders orientiert. Meine Musiker hatten zunächst schwere Bedenken. Es gab erhebliche Schwierigkeiten in den ersten beiden Jahren. Ich musste ja auch erst viele Werke überhaupt aus den alten Handschriften für die Praxis nutzbar machen. Uns war immer wichtig, dass wir zwar historische Quellen und aufführungspraktische Details berücksichtigen und uns an ihnen orientieren. Letztlich sollten sich die Interpretationen aber immer durch eine Natürlichkeit auszeichnen. Sonst bleibt alles plakativ und erreicht den Hörer nicht. Es muss ans Herz treffen, wie es Carl Philip Emanuel Bach sagt. Das trifft für Mozart in ganz besonderer Weise zu.

Diese Natürlichkeit lässt sich doch heute leichter erzielen, gerade weil Sie auf einem größeren Wissen der Orchestermusiker aufbauen können.

Das stimmt schon. Aber es gibt in allen dieser großen, sehr guten Orchester eine Gespaltenheit. Die einen interessieren sich dafür und spielen vielleicht sogar ein historisches Instrument. Die anderen hängen noch sehr am Überkommenen.  Und an den Repertoire-Häusern ist es so, dass während einer Opernserie die Musiker ständig wechseln, da kann man so gut wie gar nichts erzielen. Meine Frustration ist hier sehr groß. Ich lehne mittlerweile Engagements ab, bei denen ich ständig Kompromisse in Kauf nehmen muss. Deshalb dirigiere ich in Deutschland fast keine Oper mehr.

Aber das ist doch ein Paradox: Seit den 50er-Jahren gibt es die Erkenntnisse der historischen Aufführungspraxis. Warum sperrt sich das System gerade bei Mozart noch dagegen? Liegt es auch an der Ausbildung?

Ja. Ich hatte gerade darüber eine Diskussion mit einem Mozart-Sänger, der seine Partie schon oft gesungen hat. Die Solisten bekommen von mir immer einen eingerichteten Klavierauszug als Basis. Darin empfehle ich zum Beispiel Kadenzen. Und ich schicke ihnen gleichzeitig die entscheidenden Quellen, um zu begründen, warum ich das alles so mache. Eine Mozart-Interpretation ist ja nicht meine Privatmeinung, sondern wissenschaftlich fundiert. Dieser Sänger hat dann in den Proben die entsprechenden Noten-Vorschläge gesungen, in der Vorstellung aber nicht. Dabei kann es passieren, dass es das Orchester richtig macht, der Sänger aber falsch. Das fand ich eher unsympathisch. Wir sind also noch weit von der Selbstverständlichkeit entfernt, in der Gesangsausbildung noch mehr als bei den Instrumentalisten. Es wird quasi nach Gehör unterrichtet, nach dem, wie man es kennt. Ich finde, man darf nicht etwas rein aus einer Sicherheitserwägung heraus praktizieren – wenn es dann gegen die Musik ist.

Sie beklagen eine fatale Entwicklung der Tempi, gerade auch in Aufführungen der Wiener Klassiker. Schnelle Tempi werden immer rasanter genommen, langsame immer mehr verbreitert. Wie bekommt man das wieder zusammen?

Ich werde ja gern dafür beschimpft, aber bei Mozart nehme ich in meinen Augen sehr normale Tempi. Die kann man gut singen, jede Note lässt sich spielen, und es bleibt Raum für Verzierungen. Wir verfügen gerade in der Tempo-Frage über einige Hinweise aus der Mozart-Zeit. Und es gibt die wissenschaftlich fundierte Lehre von einem Grundpuls, der sich durch eine ganze Komposition zieht. Alle Tempi, die keine Extra-Bezeichnung wie zum Beispiel „poco“ haben, stehen in einem klaren Verhältnis zueinander.  In den Siebzigerjahren gab es Kollegen, die all dies auf eine sehr mechanische Weise durchzusetzen versuchten. Das führte aber zu unnatürlichen Ergebnissen. Es muss alles im natürlichen Fluss bleiben – und auf die jeweiligen Säle reagieren. Die Tempi einiger heutiger Mozart-Interpreten machen zwar Effekt, aber ob sich dieser wirklich auf den Inhalt bezieht, das wage ich zu bezweifeln. Abgesehen davon finde ich manches an der historischen Aufführungspraxis nur noch geräuschhaft. Das kann Mozart doch auch nicht gemeint haben. In seinen Briefen kommt als Hinweis das Wort „cantabile“ ungewöhnlich häufig vor. Ein Instrument muss die Gesangsstimme nachahmen. Wenn es nun heute heißt, ein Sänger gestalte so schön instrumental, dann ist das beinahe pervers.

Mozart liebte durchaus groß besetzte Orchester. Wo liegt für Sie die Grenze?

Es hängt von den Stücken und den Sälen ab – und von der Qualität der jeweiligen Orchester. Zentral ist immer die Frage, ob man noch artikulieren kann oder ob es zu schwerfällig wird. Eine „Jupiter-Symphonie“ mit 14 ersten Geigen dirigiere ich schon gern. Ich habe sie aber auch schon mit fünf ersten Geigen gespielt. Wir dürfen nicht vergessen: Mozart hatte beim „Mitridate“ in Mailand zum Beispiel acht Fagotte und 16 erste Geigen. Auch Haydn hat darum gekämpft, dass seine „Schöpfung“ groß besetzt wurde. Bei seinen „Pariser Symphonien“ hat er richtig in die Vollen gegriffen. Es gibt also eine Reihe von Aufführungsparametern sogar beim gleichen Stück. Die Komponisten waren sehr pragmatisch. Sie wollten schlicht aufgeführt werden.  

Was Interpretation betrifft, scheint Bach eine große Bandbreite zu vertragen. Auf der anderen Seite stehen Komponisten wie Schumann, bei denen es deutlich enger wird. Wo sehen Sie in dieser Aufspreizung Mozart?

Es liegt an der Grundhaltung der Stücke. Bei Bach ist jeder Teil in einem bestimmten Affekt geschrieben. Bei Mozart dagegen handelt es sich um mindestens zwei, meist um viele mehr. Dadurch wird die Angelegenheit für den Interpreten viel schwieriger. Eine Einheitlichkeit ist nicht mehr gegeben. Das ist wie bei vielen modernen Regisseuren: Sie haben eine Idee, doch die passt nur zu einem Ausschnitt des Stücks, nicht zu seiner Gesamtheit. Bei Schumann kommt noch etwas anderes dazu: Wer nicht wirklich seine Lieder kennt, der kann auch keine der Symphonien adäquat realisieren. Die Basis für alles sind diese kantablen Linien – auch und erst recht bei Mozart. Mir sagte neulich jemand zum Thema Interpretation, es müsse heute nicht alles unbedingt besser sein, aber anders. Das halte ich für einen tragischen Ausspruch.