Interview-Verzeichnis Presse

25. Mai 2008 · Programmheft der Dresdner Musikfestspiele

Fragen an Hartmut Haenchen zur "Missa Solemnis" von Beethoven

Aus Anlass der Aufführung zu den Dresdner Musikfestspielen

Fragen an Hartmut Haenchen zur »Missa Solemnis« von Beethoven

 

1) In einem bereits von Ihnen gegebenen Interview zur »Missa solemnis« gehen Sie davon aus, dass Beethoven für die Komposition des Werkes zwei Beweggründe hatte: Erstens seine Stellung bei Erzbischof Rudolf zu konsolidieren, zweitens ein religiöses Werk zu schreiben, das über die Institution Kirche hinausweist.

Die zweite These möchte ich gern hinterfragen. Ist dies wirklich Beethovens ureigenste Absicht gewesen, oder hat sich die Dimension des Stückes nicht im Laufe des langen Schaffensprozesses entwickelt – vor allem nachdem der Anlass, die Inthronisation von Rudolf, bei Fertigstellung des Werkes schon Jahre zurücklag?

 

HH: Die Inthronisation, für die das Stück gedacht war, lag bei Vollendung des Werkes so weit nicht zurück. Die Grundkonzeption ist natürlich im Hinblick auf diese entstanden. Erzherzog Rudolf war sein Schüler, war ihm sogar freundschaftlich verbunden und versuchte ihm eine Rente zu verschaffen. Beethoven ist natürlich katholisch aufgewachsen, und er kennt auch aus seiner eigenen Erfahrung – er war für kurze Zeit Organist - die Tradition der Messkomposition. Dass er nun ein Werk schreibt, das in vielerlei Hinsicht diese Tradition sprengt, zeigt schon, dass er nicht an eine kirchliche Aufführung gedacht haben kann.

 

2) Beethoven sprengt alle Regeln der Messkomposition. An welcher Stelle tut er das Ihrer Meinung nach am auffälligsten?

 

HH: Das Erste ist schon mal die Länge. Selbst eine »feierliche Messe« durfte die Dauer von einer halben Stunde nicht übersteigen. Beethovens Missa von über einer Stunde Länge ist selbst an hohen Festtagen oder bei feierlichen Anlässen kaum spielbar. Es kommt hinzu, dass die vorgeschriebene Orchesterbesetzung praktisch in keiner Kirche auf einer Orgelempore unterzubringen ist. Als Drittes kommen die enormen Anforderungen an die Instrumentalisten und Solisten hinzu. Henriette Sonntag, die die Teilerstaufführung in Wien gesungen hatte, sagte, sie hätte in ihrem ganzen Leben nie eine so schwere Partie gesungen. Sie ist auch heute noch für eine Sopranistin ein heikles Unterfangen.

Aus der Tradition übernommen hat Beethoven eine Reihe von Merkmalen: die Dreiteilung des Kyrie oder die Einteilung von langsamem Sanctus und schnellem »Pleni sunt coeli«, aufsteigende Figuren bei »Ascendit«, die ja schon von Anfang der polyphonen Kirchenmusik ein fester Topos sind. Er hat sogar Kirchentonarten verwendet: dorisch bei »Et incarnatus« oder mixolydisch bei »Et resurexit«.

Demgegenüber stehen eine Reihe von Brüchen dieser Tradition. Er löst die klare Einteilung in Chöre und Arien auf und macht daraus eine durchkomponierte Fünfsätzigkeit. Er gibt auch den Solisten eine vollständig andere Funktion: Arien gibt es nicht mehr, das Solistenquartett ist manchmal zweiter oder dritter Chor und agiert in nahezu opernhafter Weise. Für mich ist der gravierendste Unterschied, dass er eine strikte musikalische Trennung von Himmel und Erde vornimmt. Aus diesem Spannungsfeld postuliert er als drittes Thema den Frieden.

 

3) Ist Beethoven ein Neuerer in jeder Hinsicht?

 

HH: Beethoven hat sich in der Zeit, da er mit der Missa beschäftigt war, sehr stark mit dem »Messias« von Händel befasst. Es gibt Stellen, wo er sogar aus dem »Messias« zitiert. Er ist seiner Zeit in Riesenschritten vorausgegangen und hat Neues geschaffen, hat aber immer dem Tribut gezollt, was seinerzeit schon als Meisterwerk Bestand hatte. Diese Haltung wünschte ich einigen unserer zeitgenössischen Komponisten.

 

4) Was die Textgenauigkeit anbelangt, ist Beethoven sehr korrekt, kein Wörtchen der seit Jahrhunderten festgelegten Liturgie hat er hinweggenommen oder hinzugefügt. Wie man weiß, hat er sich selbst dem Lateinstudium gewidmet, um alles genau zu verstehen. Dennoch ist die Behandlung des Messtextes sehr unkonventionell. Wo wird das besonders deutlich?

 

HH: Es wird an zwei Stellen besonders deutlich: einmal im Credo, wo er am Ende das Ritornell des Anfangs wiederholt und auch den Text zurückbringt, der an dieser Stelle sonst nie wiederholt wurde. Im Agnus dei wird es noch mal deutlich, wo die Friedensrufe »Dona nobis pacem« an Stellen stehen, wo sie liturgisch gesehen längst passé sind. Damit und mit Repetitionen von Worten, die ihm besonders wichtig sind, setzt er ganz eigene Gewichtungen. Gleichzeitig macht er Liturgietext unhörbar, beispielsweise an der Stelle im Credo, wo es um den Glauben an die heilige katholische Kirche geht.

 

5) Halten Sie Beethoven mehr für jemandem, dem die Frage nach möglichst dramatischer Ausgestaltung des Textes mehr interessiert, als die vertonten Glaubensinhalte?

 

HH: Ich würde nicht sagen, dass Beethoven am Glauben nicht interessiert war. Er ist ein Gottsucher, wie später Gustav Mahler, der sein ganzes Leben auf der Suche ist, aber nicht begreift und daran verzweifelt, warum Gott bestimmte Dinge zulässt. Schon ganz am Anfang wird der Zweifel deutlich, wenn das Kyrie mit einer Pause beginnt und somit eine Instabilität in der Harmonik nach sich zieht. Selbst der Laie kann diese Instabilität spüren. Auf der anderen Seite kommt er am Ende seines Lebens zu der Überzeugung, dass man durch das Leiden zur göttlichen Freude kommen kann. Dies interessiert ihn auch bei der Komposition der Missa. Dennoch bewegen ihn die menschlichen Seiten von Jesus Christus mehr als die theoretische Theologie. Das sieht man ganz deutlich in der Proportionsverteilung. Da, wo es um das Erdendasein von Jesus Christus geht, breitet er sich auffallend aus. Die Doppelnatur von Jesus, nämlich Gottes- und Menschensohn gleichzeitig zu sein, hat er – wie seinen Äußerungen zu entnehmen ist – bezweifelt. Dass er das Zusammentreffen von Himmel und Erde in der Anrufung Jesu Christi im Kyrie doch einmal komponiert, kann ich mir nur durch die drohende Zensur erklären.

 

 

6) Das »Ordinarium missae« war nur für den liturgischen Rahmen zulässig, deshalb bezeichnet Beethoven in der Wiener Erstaufführung, die im Kärntnertortheater stattfand, die drei ersten Sätze auch als Hymnen. Das klingt mehr nach einem wirtschaftlichen Trick, ein und dasselbe Werk bei möglichst vielen Gelegenheiten anzubieten. Meinen Sie nicht, dass auch pekuniäre Interessen eine Rolle dabei spielten, dass er das Werk als »Oratorium« verkaufte?

 

HH: Es gibt bei Beethoven in bezug auf die Missa zwei außermusikalische Interessen: Das eine ist das Streben nach einer Hofkappellmeisterstelle, die ihm Erzherzog Rudolf verschaffen sollte und an die er ihn sogar über chiffrierte Noten erinnerte - wie wir wissen, leider umsonst. Zweitens wollte Beethoven mit der Missa – die ihren endgültigen Namen erst durch das Gemälde von Stieler erhielt - natürlich Geld verdienen. Er preist es überall als sein größtes Werk an und verhandelt, ja pokert gar mit acht Verlagen gleichzeitig, um das bestmögliche Geschäft zu machen.

 

7) Sie gehen davon aus, dass die Kirche die Vertonung ablehnte, es sind aber mehrere komplette Aufführungen zwischen 1828 und 1840 innerhalb des katholischen Hochamtes nachgewiesen. Danach ist das Werk mehr und mehr in die Konzertsäle gewandert. Ich sehe darin nicht vordergründig die Ablehnung durch die Kirche, sondern die zunehmende finanzielle Unmöglichkeit dieser, das Riesenwerk ohne Eintrittsgelder aufführen zu lassen.

 

HH: Es ist schon so, dass die katholische Kirche bis heute sehr stark an den überlieferten Formen festhält und diese auch für moderne Kompositionen fordert. Meiner Erinnerung nach gab es erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts Aufführungen innerhalb eines Hochamtes, aber da will ich mich nicht streiten. Ich gebe auch zu, dass nach der Aufhebung der Klöster durch Napoleon die katholische Kirche ein Großteil ihrer finanziellen und personellen Möglichkeiten, solch ein anspruchsvolles Opus auszuführen, eingebüßt hat. Es bleibt zudem das Problem der geeigneten Größe des Kirchenraums bestehen. Dennoch denke ich, dass die Meinung von Beethovens Atlatus Anton Schindler von vielen und so auch vom katholischen Klerus geteilt wurde: »Vornehmlich dürfen in der Missa die Sätze Agnus und Dona der Gegenstand kaum zu schlichtenden Streites verbleiben, weil er (Beethoven) sich hierbei auf einen Standpunkt gestellt, wohin kein frommes Gemüth so leicht zu folgen vermag.«

 

8) Auch Sie führen die Missa als Konzert auf, nicht als Gottesdienst – warum?

 

HH: Es gibt in Dresden keine geeignete Kirche, in der die Missa in originaler Besetzung innerhalb des Gottesdienstes aufgeführt werden könnte. Insofern besteht die Frage nicht.

 

9) Das »Dona nobis pacem« aus der Missa ist in diesem Jahr Thema des Schülermalwettbewerbs. Was ist an der Bitte um Frieden utopisch?

 

HH: Beethovens eigene Bemerkung zu Beginn des »Dona nobis« ist schon auffallend: »Bitte um innern und äussern Frieden«. Das hat sicher auch mit seinen Erfahrungen aus dem Jahr 1809 zu tun. Wien wurde damals von Napoleonischen Truppen belagert und Erzherzog Rudolf musste nach Ungarn fliehen. Beethoven konnte akzeptieren, dass der innere Frieden als Folge des Einflusses Gottes beim Menschen eintritt. Der äußere Frieden aber ist permanent bedroht. Das zeigt er an der opernhaftesten Stelle der Missa, im »Dona«, indem die Trompeten von Unheil künden. Er bemüht die Form des Rezitativs für die Solisten – in welcher Messe kam dies jemals vor? - und setzt sie gegen die Angstschreie des Chores.

Er holt die Dramatik der Kriegsereignisse in die Messe hinein, die damit eine ganz aktuelle Komposition wird. Wenn wir uns nun Thomas Morus’ Werk »Utopia« anschauen, gibt es dort eine zentrale Idee: der Ruf nach Frieden - sowohl im Umgang mit Waffen, als auch im Umgang mit Worten, also nach der Frage, wie Menschen miteinander umgehen. Er setzt sich für Gleichberechtigung ein, sowohl was die Geschlechter als auch die Verteilung der Produktionsmittel und Güter anbelangt. Zu Beethovens Zeiten war Frieden keine Erfahrung, sondern eine Utopie, ständig war um ihn herum Krieg. Heute haben wir schon länger als 60 Jahre Frieden in Deutschland, aber die Kriegsschauplätze in Afghanistan, dem Irak oder dem Tschad sind infolge der Mediengeschwindigkeit viel näher an uns herangerückt.

Demnach bleibt Frieden auch für uns eine Utopie.

 

 

10) Wie Beurteilen sie die weitaus geringere Beteiligung der Dresdner Schüler an dem Malwettbewerb im Vergleich zum Vorjahr, wo »Finlandia in Farbe« so

große Resonanz fand. Ist das Thema Frieden nicht mehr up to date?

 

HH: Ich habe zwei Erklärungen: Zum einen ist es sicher weitaus schwieriger, dies Thema bildhaft darzustellen als ein landschaftliches Thema. Das wussten wir aber auch im Voraus. Es gibt auch noch eine ganz praktische Seite, nämlich, dass die Schulen, die im letzten Jahr gewonnen haben, sich sagen: »diesmal gewinnen wir sowieso nicht noch einmal, also machen wir erst gar nicht mit.« Ich finde aber nach wie vor die Themenwahl anhand der Komposition der Missa sehr passend und richtig. Inzwischen ist die Beteiligung im Übrigen auch so gut, dass ich mir keine Sorgen mache.

 

11) Die Missa solemnis ist ihr Abschlussdirigat, nicht nur der diesjährigen Festspiele, die unter dem Motto »Utopia« standen, sondern am Ende ihrer sechsjährigen Intendanz der Dresdner Musikfestspiele – ein Zufall ?

 

HH: Nein. Zunächst ist das Thema kein Zufall, auch dass es am Ende meiner Amtszeit steht. Die »Missa solemnis« verkörpert natürlich das Thema in nahezu idealer Weise. Für mich als Dirigent ist die Ausführung dieses Werkes immer noch ein utopischer Gedanke, da man sich seinen Anforderungen höchstens annähern kann.

 

12) Was verbinden Sie persönlich mit Beethovens Anweisung : Bitte um innern und äussern Frieden.

 

Wie Sie wissen, bin ich in Dresden in einer Zeit aufgewachsen, da es sich mehr um eine graue Ruinenlandschaft, als um eine Stadt handelte. In diesen Zeiten hat es meiner Empfindung nach mehr inneren Frieden unter den Menschen gegeben als es heute der Fall ist. Die Menschen beschäftigen sich heute nicht mehr mit der Frage nach dem inneren – damit meine ich den zwischenmenschlichen - Frieden, wie sie sich überhaupt nicht um philosophische Fragen scheren. In schweren Zeiten, wie den Nachkriegszeiten, wurden diese Fragen härter und klarer diskutiert. Ich wünsche der Stadt Dresden zum Ende meiner Amtszeit, dass es sich diesem Thema wieder ernsthaft zuwendet.

 

Das Gespräch führte Henriette Sehmsdorf.