Interview-Verzeichnis Presse

21. März 2013 · Sächsische Zeitung

Hartmut Haenchen wird 70.

Wer heute an der Tür zum Dresdner Haus von Hartmut Haenchen klingelt, klingelt umsonst. Der Dirigent wird zwar heute 70 Jahre – ist aber wie immer unterwegs. Nur knapp 20 Tage wird der ehemalige Kruzianer in diesem Jahr daheim sein. Von London bis Tokio ist er gebucht, als Spezialist für Mozart, Wagner, Mahler und Strauss, als Kämpfer für die Moderne. Er ist nicht überall beliebt, denn er probt vermeintlich vertraute Stücke immer wieder und wieder. Das frisst Zeit, die viele Opernhäuser angeblich nicht mehr haben. Jene Theater freilich, die sich auf Haenchen einlassen, gewinnen. Seine Aufführungen gelten als exemplarisch gut. Bereits bis 2017 ist sein Terminkalender schon voll. Selbst das Interview zum Jubiläum fand Monate vorher statt, per E-Mail wurde es aktualisiert. „Wir überleben trotz Arbeit“, ist eine Devise des Jubilars und seiner Frau.

 

Herr Haenchen, Sie werden 70. Was machen Sie an so einem schönen Tag?

 

Arbeiten, was sonst. Die Familie hat ohnehin keine Zeit mitten in der Woche für eine Feier. Ich probe in Amsterdam Wagner. Wenn Sie so wollen, feiere ich „Walküre“.

 

Erneut einen kräftezehrenden „Ring“? Wie oft waren Sie schon „Ringer“?

 

Bislang habe ich 24 Mal die (mit den richtigen Wagner-Tempi) 13,45-stündige Tetralogie dirigiert. Jetzt kommt die Wiederaufnahme unserer 15 Jahre alten, aber unverändert tollen und zeitlos modernen Erfolgsproduktion – dann werden es 34 „Ringe“ sein. Die Amsterdamer rennen uns die Bude ein. Bereits jetzt sind alle Karten bis Februar 2014 weg. Sie haben Recht, was den Kraftakt betrifft. Kollege Bernard Haitink meinte einmal: Den „Ring“ sollte man vor dem 60. Geburtstag nicht machen, weil man ihn geistig nicht bewältigt, und nach dem 60. nicht machen, weil man ihn körperlich nicht mehr schafft. Ganz klar: Dieses wunderbare, komplexe Werk erfordert eine physische Höchstleistung. Das liegt nicht an den Vorstellungen, sondern an den Proben davor. Ich probe jeden Tag zehn bis zwölf Stunden und gehe quasi fix und fertig in die Generalprobe!

 

Hilft Krafttraining beim „Ringen“?

 

Ohne Fitness-Training geht das nicht mehr. Ich fahre Fahrrad und habe eine Rudermaschine. Letztere tut dem Kreuz gut, denn jeder Dirigent hat Rückenprobleme. Außerdem mache ich jeden Tag Yoga.

 

Warum überlassen Sie nicht Ihren Assistenten die lästigen Proben?

 

Ich habe zwar zwei sehr gute Assistenten, mit denen ich international unterwegs bin, die übernehmen auch Proben. Aber niemand anderes kann so exakt mit dem Orchester und den Sängern arbeiten wie ich selbst. Das ist das Schöne an der Musik, es gibt Gott sei Dank so viel, was man nicht beschreiben kann, sondern mit seinem Körper übertragen muss. Meine Assistenten haben zu organisieren, sitzen im Saal, um zu hören, wie sich die Klänge mischen, ob die Balance stimmt, denn auf meinem Platz am Pult höre ich doch von allen im Saal am schlechtesten.

 

Sie hören gern schlecht von London bis Tokyo, nur nicht in Dresden – warum?

 

Ja, meine Fixpunkte sind derzeit London, Paris, Madrid, Brüssel und Amsterdam, dann kommt Tokyo dazu. Gerade bin ich wieder an die Mailänder Scala eingeladen worden. Dort bin ich gern, weil man mir optimale Arbeitsbedingungen garantiert. In Dresden hatte ich mich bewusst rargemacht, nach meiner Intendanz der Dresdner Musikfestspiele erstmal fünf Jahren in der Heimat pausiert: Auch, weil mein Kalender voll war. Jetzt passt es wieder. Ich werde bei den Musikfestspielen auftreten und habe danach zwei Tage frei. Waren Sie es nicht, der damals geschrieben hat, ich würde zu viel in Dresden machen?

 

Vielleicht hatte ich mich getäuscht? Sie gelten als jemand, der sonst umworbenen Theatern einen Korb gibt – wie das?

 

Der Wiener Staatsoper habe ich bislang 26 Mal abgesagt, weil die stets meinten, sie können alle Stücke. Wenn ich aber jedem Musiker das von mir eingerichtete, quellenkritische Notenmaterial auf das Pult lege, erwarte ich, dass wir Arbeiten. Und zwar, nach eben den neuen Erkenntnissen. Manche Musiker wollen so spielen wie immer. Dem Dirigent gestehen sie nur zu, dass er etwas lauter oder leiser, etwas schneller oder langsamer musiziert. Dabei birgt doch die Musik mehr als nur Tempo und Dynamik. Also gehe ich zu den Häusern, wo ich genügend Proben mit Orchester, Chor und Solisten bekommen.

 

Das 2013 bringt Haenchens 70. und Wagners 200. – passt gut, oder?

 

Nun wollen wir mal die Kirche im Dorf lassen, aber ich gebe zu, dass ich nichts dagegen habe, mit Wagner zu feiern. Er ist eine so faszinierende, wortgewaltige Persönlichkeit, ein so fleißiger und produktiver Künstler und ein sehr, sehr streitbarer Mensch. Und obwohl über keinen anderen Komponisten so viel geforscht und publiziert worden ist: Von ihm werden wir sicher auch in 100 Jahren noch längst nicht alles wissen oder müssen vieles noch mal neu überdenken.

 

Sie haben Wagners Musik verschlankt und entschlackt, penibel nach den Originalpartituren und vor allem den späteren Aufzeichnungen und Korrekturen revidiert. Wie kamen Sie darauf?

 

Wie immer beim Studium der Quellen. Wagners musikalische Ideen wurden in der aufführungspraktischen Routine nach seinem Tod verzerrt und vernebelt. Man muss nur seine Partituren und Anweisungen lesen. Und wenn man die allerersten Aufnahmen Anfang des 20. Jahrhunderts hört, sind die alle sehr klassizistisch, sehr leicht. Gerade in den frühen Werken von „Holländer“ bis „Lohengrin“ muss der Stil-Mix zwischen leichter italienischer Oper und Anklängen der deutschen romantischen Oper zu hören sein.

 

Werden wir Wagner am Jahresende satt haben? Kann man ihn sich überhören?

 

Da mache ich mir keine Sorgen. In Meisterwerken entdeckt man jedes Mal Neues. Da kommt keine Routine auf. Ich stehe unverändert staunend vor den Kompositionen.

 

Wie kann das sein?

 

Sie sehen plötzlich Farben, die Ihnen vorher nicht aufgefallen sind. Gut sind Pausen, weil man dann mit neuem Blickwinkel auf die Partitur schaut. Entscheidend ist für mich, die Rückbesinnung auf das Original, besonders die Aufzeichnungen seiner Assistenten. Dann merkt man, wie durchhörbar zumindest der späte Wagner ist. Sie haben zur gleichen Zeit Forte in einer Stimme und PianoV in einer anderen Stimme. Die Konsequenz ist, dass man diese Pianostimme eigentlich fast nicht hören kann, daV sie nur eine Farbe ist. Weswegen entsteht denn immer dieser Riesenbrei? Weil alle immer die gleiche Dynamik spielen. Nein, bei Wagner ist nichts gleichförmig. Er lässt Dinge vergehen, aus denen dann Neues erwächst. Diese Übergänge sind ebenso grandios, wie er Motive raffiniert abwandelt, verschieb oder überlappt, dass sie ähnlich klingen, aber stets anders sind.

 

Wagner war ein Genie, der über Jahrzehnte nach genauem Plan an den Werken gearbeitet hat – falsch oder wahr?

 

Beides: Er hatte sehr weitreichende Visionen, hatte andererseits schon frühzeitig manchen Hit. Der „Walkürenritt“ war komponiert, da war an „Walküre“ noch gar nicht zu denken. Eigentlich war er ein Spätentwickler, deshalb ist es der Mühe wert, die frühen Stücke zu machen, weil man einen Komponisten nur aus seiner Entwicklung heraus verstehen kann und mancher Plan veränderte sich auch mit der Zeit, was beim Ring besonders deutlich zu sehen ist.

 

Was wäre Ihr Leben ohne Wagner?

 

Es wäre künstlerisch ganz anders gelaufen. Ich fing ja an in einer Zeit, als Wagner zu großen Teilen in der DDR nicht gestattet war. Ich war nach Herbert Kegel der zweite Dirigent, der das politische Wagnis auf sich nahm, „Parsifal“ aufzuführen. Der war ja untersagt. Und dann hatte ich noch das Pech oder Glück, in der Berliner Lindenoper „Parsifal“ zu dirigieren. Die Vorstellung war offiziell ausverkauft. Drinnen saßen nur 300 Stasi-Leute, draußen standen die Leute nach Karten an. Ich habe den Vorgang gar nicht so wahrgenommen, weil ich viel zu sehr mit dem Stück beschäftigt war.

 

In der DDR wurden Sie zum Staatsfeind, weil Sie sich mit den Instanzen anlegten, sich weigerten, Musik zu verbiegen. Und durften dann doch offiziell im Westen arbeiten: Segen oder Fluch?

 

Beides: Man wollte mich, ,ein politisches Problem und einen schlechten Dirigenten weniger’, wie es offiziell hieß, aus dem Land raushaben. Man bot mir an, mich selbst freizukaufen – mit zwanzig Prozent meiner Westhonorare. In Amsterdam als Chefdirigent von Orchester und Oper hatte ich aber den Spitzensteuersatz von 72 Prozent zu zahlen, zehn Prozent ging an meine Agentur. Bitte rechnen Sie selbst! Es blieb nichts zum Leben. Eine Zeitlang teilte meine Frau ein, wer wann duschen durfte und die Brotscheiben gab es abgezählt. Künstlerisch freilich waren die Jahre in Amsterdam sehr glückliche. Ich konnte die Philharmonie zu einem Spitzenorchester formen, wir bauten eine neue Oper, konnten tolle Opernprojekte - es sind jetzt 70 - herausbringen und haben uns unter anderem ganz exquisit mit Gustav Mahler und seinem Werk beschäftigt. Soeben ist das denkwürdige Benefizkonzert mit Malers "Sinfonie der Tausend" für die Flutopfer in der Dresdner Kreuzkirche bei ica in London erschienen und wie beim Benefizkonzert spenden alle 600 Mitwirkende, darunter auch die Kapellknaben und der Kinderchor der Dresdner Philharmonie ihr Honorar der Stiftung Dresdner Kreuzkirche e.V.

 

Man feiert Sie in Holland, Frankreich, Spanien ... Schmerzt es, in Deutschland nicht so anerkannt zu sein?

 

Nein, es verwundert mich nur, weil man hier aus dem Schubladen denken nicht herauskommt. Zu Hause - in dem Fall musikalisch - ist man dort, wo man gebraucht wird und da kann ich nicht klagen. Das beste Beispiel, warum ich in Deutschland nicht dirigiere, ist die - unveränderte - Situation mit dem Repertoire-Spielplan wie in Dresden. Da hatte sich mit der berühmten Elektra-Produktion, die ich mit Ruth Berghaus zur Premiere brachte, die Situation ergeben, dass es nach 9 Monaten keine Orchesterprobe für die Wiederaufnahme gab. Daraufhin war meine Zusammenarbeit mit der Semperoper beendet, weil ich das nicht akzeptiert habe. International hat sich schon längst das Stagionesystem (welches übrigens auch finanziell wesentlich günstiger ist) oder zumindest das Blocksystem durchgesetzt, wo es Wiederaufnahmen wie im Repertoire-Theater nicht gibt. Da gibt es nur Premieren mit einer Reihe von Vorstellungen, wo eine Sängerbesetzung, ein Dirigent und eine nicht wechselnde Orchesterbesetzung von der ersten bis zur letzten Vorstellung beieinander bleiben. Am Ende der Serie ist auch der künstlerische Höhepunkt erreicht, weil bis dahin noch weitergearbeitet wird.

 

Trotz der Weltkarriere blieb Ihre Heimat Dresden Ihr Zentrum. Warum halten Sie an Dresden fest?

 

Wahrscheinlich weil ich hier schon meine Grabstätte auf dem Loschwitzer Friedhof V habe. Zwei Dinge haben mich dazu bewogen. Ich will meinen Nachkommen den ganzen Ärger im Falle des Falles ersparen. Gleichzeitig will ich beitragen, ein Stückchen Dresdner Kultur zu erhalten. Der Loschwitzer Friedhof steht unter Denkmalschutz, bekommt aber keinen einzigen Cent. Es ist nicht mal Geld da, um die bei der Flut 2002 beschädigten historischen Grabstätten in Ordnung zu bringen. Sie finden das makaber, über so eine Sache zum 70. Geburtstag zu reden? Dafür gibt es keinen Grund: Der Tod gehört nun mal zum Leben.

 

Wobei ja die Regel gilt: Dirigenten sterben jung oder werden steinalt!

 

Das mag sein. Aber es wird alles anstrengender. Das Reisen wird unkomfortabler: ob Auto, Flugzeug oder Bahn. Es wäre falsch zu sagen, dass ich kürzertreten möchte. Aber ich schaue schon, dass ich nach 2016 nicht nur die fünfstündigen Opern und die ganze großen Konzertprogramme mache. Und auch da ist Dresden als Zentrum wichtig. Hier steht meine Bibliothek. Ich kann von irgendwo in der Welt anrufen und meine Tochter bitten, aus dem dritten oder vierten Schrank oben eine bestimmte Partitur herauszunehmen und mir zuzuschicken. Ja, lebe gern in Dresden, in meinem Haus mit seinem schönen Blick über die Stadt. Die Familie wohnt in der Nähe, gute Freunde sind nah.

 

Letzte Frage: Auf welches nichtmusikalische Projekt freuen Sie sich in neuem Lebensjahrzehnt? Oder, was wünschen Sie sich?

Auf einen Tag in meinem Garten mit Enkeln mit der großen Eisenbahn spielen.