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Bayerischer Rundfunk, 11. Februar 2014
Kritik im Bayerischen Rundfunk am 11. Februar 2014 hier
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Hartmut Haenchen
"Werktreue und Interpretation"
Hartmut Haenchen - gleichermaßen Spezialist für Alte wie Neue Musik - hat nun das zweibändige Buch "Werktreue und Interpretation" veröffentlicht. Darin behandelt er auch die zentrale Frage, was Werktreue eigentlich bedeutet.
Von: Susanna Felix/Onlinefassung: Ulrich Möller-Arnsberg

Hartmut Haenchen gibt sich nicht mit Halbwissen zufrieden. Ein umfassendes Quellenstudium ist für den Dirigenten eine Selbstverständlichkeit. Sein neues Buch "Werktreue und Interpretation" enthält Aufsätze, Programmhefttexte und Briefe aus drei Jahrzehnten, die Haenchens Forschungsarbeit dokumentieren. Angefangen bei Orchesterwerken von Bach über Mozart und Beethoven liefert Haenchen spielpraktische Hinweise - beispielsweise wie Vorschläge und Verzierungen auszuführen sind. Dies veranschaulicht er nicht nur mit konkreten Notenbeispielen, sondern belegt seine Erklärungen auch glaubhaft anhand theoretischer Schriften der Zeit – wie etwa von Friedrich Wilhelm Marpurg oder Johann Joachim Quantz.

Schluss mit Halbwissen
Schonungslos räumt Haenchen mit verbreiteten Allgemeinplätzen auf. Zum Beispiel mit dem, man hätte im 18. Jahrhundert konsequent ohne Vibrato gespielt. Er beruft sich unter anderem auf Leopold Mozart und kritisiert in dem Zusammenhang auch namhafte Kollegen der Alte-Musik-Szene, wie Sir Roger Norrington.

"Das heutige vielfach permanent gehandhabte non vibrato in der 'historischen Aufführungspraxis' ist eine Nachlässigkeit und Bequemlichkeit, sich wirklich mit der Aufführungspraxis auseinanderzusetzen."

'Historische Aufführungspraxis' - ein Irrtum?
Ebenso unsinnig wie die Regel: grundsätzlich kein Vibrato! sei laut Haenchen die Annahme eines einheitlichen historischen Kammertons. Vor allem dürfe - beispielsweise in Hinblick auf die Tonartencharakteristik – bei der Interpretation der Hörer von heute nicht außer Acht gelassen werden.

"Es gibt kein historisches Publikum, und somit kann selbst die perfekteste Kopie einer historischen Aufführung nicht im Entferntesten erreichen, was sie zu seiner Zeit konnte."

Haenchen stellt die gängige 'historische Aufführungspraxis' in Frage. So solle sich beispielsweise die Größe der Orchesterbesetzung nach der Größe des Saals richten – das sei früher nicht anders gewesen.

Transparenter Wagner gefordert
Für Haenchen bedeutet Werktreue in erster Linie, der Vorstellung des Komponisten möglichst nah zu kommen. Das zeigt sich auch im zweiten Band, in dessen Mittelpunkt Wagners "Ring des Nibelungen" steht. Neben umfangreichen Dokumenten zur Entstehungsgeschichte und Interpretation des Werkes behandelt Haenchen auch die heikle Frage nach dem richtigen Tempo, wobei er sich strikt auf Aussagen Wagners beruft.

"Seine immer wiederkehrende Bemerkung ‚nicht pathetisch‘ zeigt deutlich, dass sich unter dem Einfluss der Dirigenten wie Furtwängler und Toscanini ein Wagner-Bild herausgebildet hat, welches den Vorstellungen des Komponisten vollständig entgegensteht."

Haenchen plädiert bei Wagner für ein zügigeres Tempo, eine Zurücknahme der Lautstärke bei fortissimo-Stellen und fordert insgesamt einen transparenteren Klang. Ob Spieltechnik, Besetzungsfragen oder Regieanweisungen – Haenchen spricht viele Facetten an, die bei einer werktreuen Interpretation beachtet werden müssen. Andere Themen wie beispielsweise die Verwendung historischer Instrumente hingegen berührt er so gut wie gar nicht. Ein umfangreicher Anhang mit Briefen und Tagebuch-Notizen am Ende des Buches gibt auch Einblick in Haenchens Berufsalltag sowie sein Engagement in kulturpolitischen Angelegenheiten.

Zentrale Werke in neuem Licht
Insgesamt ist Haenchens Buch eine interessante und informative Fundgrube, die schlaglichtartig wichtige Ansätze zu einer werktreuen Interpretation bietet. Zentrale Werke der Musikgeschichte, vor allem von Mozart und Wagner, erschließen sich dem Leser aus einem neuen Blickwinkel. Und: Die Lektüre macht durchaus Lust, sich auch die entsprechenden Einspielungen von Haenchen anzuhören. Aber man kann dieses zweibändige Werk nicht von vorne bis hinten durchlesen. Haenchen listet mitunter in seitenlangen Tabellen Spielanweisungen und Korrekturen zu fehlerhaften Notenausgaben auf, die vielleicht für Musiker und Dirigenten interessant sein dürften, aber nicht für den Durchschnittsleser. Abgesehen davon ist das Buch lohnenswert für alle, die sich näher mit Stillehre und Aufführungspraxis beschäftigen wollen und sich dafür interessieren, wie eine werktreue Interpretation entsteht.