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The Listener, 11. April 2014
The Listener, 11. April 2014
EINST DER "BOOM-BACH", HEUTE WIEDER DER GROSSE UNBEKANNTE: WILHELM FRIEDMANN

Ich finde es im Prinzip witzig, aber auch etwas erschreckend, über welch kurzes Gedächtnis die Klassikbranche verfügt – die ja immerhin mit jahrhundertealten musikalischen „Gütern“ Handel treibt.

Ein ganz spannendes Beispiel dafür ist der Fall Wilhelm Friedemann Bach. Noch Mitte der 1990er-Jahre hatte es eine kurzzeitige, aber sehr heftige W.F. Bach-Begeisterung gegeben. Wilhelm Friedemann galt zu jener Zeit unzweifelhaft als der bei einem breiten Publikum bekannteste „Bach-Sohn“.
Nun, im Jubiläumsjahr von Wilhelm Friedemanns Bruder Carl Philipp Emanuel hat sich das Bild drastisch gewandelt: Wilhelm Friedemann Bach wird aus dem Topf gezaubert, als sei er der große Unbekannte, während das C.P.E. Bach-Jubiläum ungeahnt rosige Blüten treibt.
Mal im Ernst: Wer hat sich denn bis 2013 groß für C.P.E. Bach interessiert? Und nun tauchen dessen Werke plötzlich in den Klassik-Charts auf!?
So begrüßenswert das an sich ist, erinnert es mich doch frappierend an jenes kurzzeitige W.F. Bach-Hoch in den 1990er-Jahren. Dass der älteste der Bach-Söhne heute wieder als „nobody“, den es zu entdecken gilt, hingestellt werden kann, liegt wohl vor allem daran, dass die Labels es anno 2010 versäumt haben, ihn ähnlich wie heute C.P.E. Bach zu hypen.

Wie dem auch sei: Die Wiederveröffentlichung der sehr schönen Einspielung der gesammelten „Sinfonien“ von W.F. Bach durch das Kammerorchester C.P.E. Bach unter Leitung von Hartmut Haenchen gehört zweifellos zu den positiven Überraschungen des C.P.E. Bach-Jubiläumsjahrs. Mit einem definitiv nicht verknöcherten „historisch informierten“ Ansatz, sondern mit einer legeren, frischen, musikalischen und einfach eingängigen Attitüde entließ Haenchen diese immer wieder interessanten und überraschend originellen W.F. Bach-Stücke anno 1993 auf (damals noch) Schallplatte und CD. Damals waren sie einer der Auftakte zu dem erwähnten kleinen W.F. Bach-Boom, der heute scheint’s schon wieder ganz vergessen ist.

Vielleicht schafft es ja Bruder C.P.E. die Bach-Söhne insgesamt aus ihrer Publikumskrise zu befreien. Das wäre zu wünschen, denn das in meinen Augen interessanteste Jubiläum steht uns erst in ein paar Jahrzehnten noch bevor, nämlich der 300. Geburtstag von Johann Christian Bach im Jahr 2035… Bis dahin gilt es noch viel nachzuholen. Diese CD ist ein zeitlos guter Startpunkt dafür.
Rainer Aschemeier