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Deutschlandfunk, 24. Mai 2016
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In der Sendung Musikjournal im Deutschlandfunk wurde mit einem Beitrag von Bjœrn Woll die 2. Auflage (nähere Einzelheiten weiter unten) der Bücher von Hartmut Haenchen gewürdigt und vorgestellt.
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Einige Zitate aus der Sendung:
Anmodertion: Hartmut Haenchen ist ein streitbarer Zeitgenosse mit klaren Auffassungen zur Interpretation klassischer Musik. .... sind sozusagen als „Abfallprodukte“ immer wieder Texte entstanden: als Information für die Ausführenden, für Programmhefte oder Vorträge. Bereits 2013 sind diese in Buchform unter dem Titel „Werktreue und Interpretation“ erschienen, dem Hartmut Haenchen den Untertitel „Erfahrungsbericht eines Dirigenten“ gab. Doch die zwei Bände waren viel mehr als das: Sie waren das Ergebnis einer jahrzehntelangen akribischen Auseinandersetzung mit den musikalischen Quellen. Kritisch hinterfragte Hartmut Haenchen tradierte Aufführungskonventionen und machte die maximale Werktreue zur unabdingbaren Voraussetzung seiner Interpretationen. Und der Forschungsdrang des Dirigenten ist bis heute ungebrochen. Daher erscheinen die beiden Bänden von „Werktreue und Interpretation“ gut drei Jahre nach ihrer Erstveröffentlichung nun im Pfau-Verlag in korrigierter und erweiterter Form. Während einige Kapitel lediglich um neue wissenschaftliche Erkenntnisse erweitert wurden, kamen andere wie das zu Wagner „Lohengrin“ ganz neu hinzu. Bjørn Woll hat die Neuauflage gelesen.
Zitat Hartmut Haenchen: „Im Zeitalter der Medien geht es im Allgemeinen nicht mehr um die Darstellung des jeweiligen Werkes, sondern um die Selbstdarstellung der Dirigenten und Regisseure. Da von der Mehrzahl der Medien bei der Vielzahl der Ereignisse nur noch die Extreme beachtet werden – es muss extrem jung oder alt, extrem schnell oder langsam, extrem leise oder laut, extrem schön oder hässlich sein – richtet sich eine überwältigende Zahl der Interpreten nach dieser Anforderung der Zeit, um von diesen Medien beachtet zu werden.“
Björn Woll: Es sind klare Worte, die Hartmut Haenchen in seinem Erfahrungsbericht „Werktreue und Interpretation“ formuliert. Sie haben die Lautstärke und donnernde Wucht eines Paukenschlags. Dabei ist der 1943 in Dresden geborene Dirigent eigentlich mehr reflektierter Denker denn polternder Provokateur. Nie geht es ihm um die eigene Person, sondern immer um den Willen des Komponisten, wie er schreibt:
Zitat Hartmut Haenchen: „Was ist Erfolg? Ich habe nicht getan, was andere getan hätten, nämlich auf Effekte zu bauen, um schnelle Resultate zu verbuchen. Ich habe allerdings begriffen, dass ich gut über die Beziehung zwischen Idee und Ausführung nachdenken muss.“
Björn Woll: Es ist ein Wort, das sich wie ein Leitmotiv durch das künstlerische Leben von Hartmut Haenchen zieht: NACHDENKEN. Bereits mit 13, da war er noch Kruzianer, flammte sein Interesse für alte Schriften zur Aufführungspraxis auf – und dieses Fieber ließ ihn nicht mehr los: Für jede Aufführung, jede Interpretation versenkt er sich aufs Neue in die Quellenforschung und befragt die Autographe, mit einer Akribie und Kompromisslosigkeit, die staunend macht. Man fragt sich bisweilen, wann der Mann das alles gelesen hat? ...
Verstöße gegen diese Überzeugung (gegen wirkliche Wissenschaftlicheit HH) werden von Hartmut Haenchen scharf kritisiert, beispielsweise die Mozart-Interpretationen der historischen Aufführungspraxis:
Zitat Hartmut Haenchen: „Ist das heute übliche ,Zerhacken‘ – oder wie Mozart sagt: ,Verzupfen‘ – und das Spiel mit hohem Geräusch-Anteil von ,Alter Musik‘ wirklich das Cantabile, welches den Gesang, laut W. A. Mozart sogar gelegentlich mit Portamento nachahmt?“
Björn Woll: Die Antwort auf diese provokante Frage gibt Hartmut Haenchen mit seiner eigenen Einspielung von Mozarts Jupiter-Sinfonie. Vergleicht man sie etwa mit der fast zeitgleich erschienenen Aufnahme von Nikolaus Harnoncourt, ist Haenchens Lesart wesentlich organischer und verzichtet auf die harschen Akzente des Kollegen. Es ist eine rundherum überzeugende Darbietung, die zu recht hervorragende Kritiken einheimste. ... Hartmut Haenchen vertritt stets einen klaren Standpunkt – und für den setzt er sich streitbar ein: Dem bedeutenden Bach-Forscher und -Interpreten Joshua Rifkin wirft er in seinem Buch etwa vor, dass die von diesem propagierte solistische Chorbesetzung in Bachs Kantaten und Oratorien wissenschaftlich nicht zu belegen sei. Haenchen hält hier eine größere Besetzung von mindestens 26 Sängern für historisch korrekt. ... Viel wichtiger ist ohnehin die Frage, ob die dadurch gewonnenen Erkenntnisse zu einer überzeugenden Interpretation führen – als eine Möglichkeit unter anderen. Hartmut Haenchen gelingt dies immer wieder, nicht nur in der so genannten Alten Musik. Auch als Wagner-Dirigent hat er sich einen Namen gemacht und widmet dem Bayreuther Meister gleich mehrere Kapitel. Dort kritisiert er beispielsweise ein seiner Meinung nach zu pathetisches Wagner-Bild, immerhin habe dieser selbst immer wieder verschleppte und verschluderte Tempi bemängelt. Und auch im berühmten Adagietto aus Mahlers fünfter Sinfonie schlägt Haenchen ein deutlich flotteres Tempo an als viele seiner Kollegen. Das habe man lange Zeit als Trauermarsch missverstanden, schreibt er als Erklärung, dabei sei es eigentlich doch eine Liebeserklärung an Mahlers Frau Alma.
... Hartmut Haenchens „Werktreue und Interpretation“ gibt uns einen faszinierenden Einblick in die Arbeitsweise eines Dirigenten, der sein Leben bedingungslos der Suche nach der musikalischen Wahrheit widmet. Wohlwissend, dass eine „authentische“ Aufführung immer nur eine Annäherung an die kompositorische Idee sein kann, die für uns heutige Menschen durch den Interpreten gewissermaßen übersetzt werden muss. Das Buch ist aber auch ein eindringliches Plädoyer für die politische Verantwortung von Künstlern, denn Hartmut Haenchen ist in einem doppelten Sinne ein Unbeugsamer: sowohl in seinen musikalischen als auch seinen politischen Überzeugungen. Für ihn ist Musik nie reine Unterhaltung, sondern immer Mittel zum humanistischen Diskurs. .... So schreibt er im Aufsatz über „Humanistische Ideale oder zerbrechende Gesellschaften“:
Zitat Hartmut Haenchen: „Stellt echte Kultur auf den ersten Platz und Europa wird überleben, denn Europa muss zuallererst als Kulturraum und nicht als Wirtschaftsraum verstanden werden. Nur wenn die Europäer ihre Energie nicht mehr in erster Linie auf die Ökonomie konzentrieren, sondern ihre Kultur erhalten und weiterentwickeln, wird Europa den entscheidenden Beitrag für die Zukunft leisten können.“
Björn Woll: Bereits 2010 hat Hartmut Haenchen diese Worte zu Papier gebracht, doch wirken sie heute aktueller denn je zuvor. „Werktreue und Interpretation“ ist also eine in mehrfacher Hinsicht lohnenswerte Lektüre.