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WDR 3, 09. August 2018
"Eine spektakuläre, ja eine epochale Einspielung von Bruckners VIII. Symphonie legt der Dirigent Hartmut Haenchen hier vor. Es ist, wenn auch nicht explizit ausgewiesen, offensichtlich eine Live-Aufnahme, und es ist die schnellste, die ich kenne, aber das ist nicht das wesentliche Kriterium. Das Auffallendste ist die Verflüssigung der Tempi, mit der Hartmut Haenchen einen für Bruckner bislang ungewohnten deklamatorischen Sog entfacht. ...
Hartmut Haenchen hat zuletzt beim Bayreuther Parsifal der vergangenen beiden Jahre gezeigt, wie anders eine anscheinend so wohlbekannte Musik klingen kann, wenn man den Firnis von Überlieferung, Routine und Schlamperei vom Notentext abkratzt, eine Partitur wieder wie neu liest und sich dabei in das kulturelle Wissen der Entstehungszeit vertieft. Und dies betreibt Haenchen auch hier, bei Bruckners VIII., mit Neugier und ansteckender Entdeckerfreude, aber ohne jeglichen bilderstürmerischen Eifer.
Haenchen hat für seine Einspielung die letzte Fassung der Symphonie gewählt. Diese Version von 1890 unterscheidet durch viele großflächige Änderungen von der ersten Fassung, ist also nicht nur eine retuschierte Ausgabe zur leichteren Aufführbarkeit. Bruckner wollte seine oft radikaleren Erstfassungen – wie er selber schrieb – „für spätere Zeiten“ gelten lassen, aber Hartmut Haenchen hat philologisch gute Gründe, bei dieser VIII. Symphonie auf die Fassung von 1890 zu setzen. Diese Gründe legt er im booklet und auf seiner Homepage ausführlich dar.
Sensationell ist jedoch etwas anderes: Haenchen ist gewohnt, Partituren auch gegen den Strich zu lesen und damit alle Hörgewohnheiten und Erwartungshaltungen zu unterlaufen. Er sieht Bruckner nicht nur als Symphonikerkoloss, der seine mächtigen Themen blockhaft nebeneinanderstellt. Haenchen verortet Bruckner hörbar neu, siedelt ihn zwischen dem Vorbild Wagner und dem Antipoden Brahms an. Das erreicht er durch feinste Tempomodifikationen und dynamische Finessen, die Bruckners statische Klangmassen auflösen und verflüssigen.
Haenchens Begründung ist so einfach wie plausibel: Wir wissen aus zahlreichen Anmerkungen Bruckners, dass er wesentliche Nuancen seiner Musik nicht in der Partitur vermerkt hat, sondern als briefliche oder mündliche Empfehlung an die ihm vertrauten Dirigenten weitergab. Diese Orchesterleiter im Wien des ausgehenden 19. Jahrhunderts dirigierten natürlich auch Johannes Brahms’ Symphonien. Von diesem kennen wir, explizit festgehalten, ebenfalls Spielanweisungen, die in der Partitur nicht vermerkt sind, sich aber aus dem idiomatischen Musikverständnis der Zeit ergeben. Denn auch Brahms‘ Symphonien müssen wir uns nicht sklavisch nach dem Partiturtext aufgeführt denken, sondern mit heftigen Tempowechseln und dynamischen Freiheiten.
In diese Tradition stellt sich Hartmut Haenchen und bietet eine unerhört spannende Lesart von Bruckners VIII. Symphonie. Das ausgezeichnete dänische Orchester ist absolut auf internationalem Niveau und folgt Haenchens Intentionen hingebungsvoll. ... Die Live-Aufnahme ist auch in technischer Hinsicht erstklassig, der opulente Orchesterklang ist exzellent durchhörbar und in ein transparentes Panorama eingebettet.
... Aber Haenchen macht viel mehr daraus: Sein Trio ist eine herzbewegende Angelegenheit, die keinen tumben Typus darstellt, sondern individuellen Herzensregungen seismographisch nachspürt – ein berührendes Seelenpanorama....
Michael Schwalb
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