Opern

Neue Zürcher Zeitung, 29. Januar 2011
Leute von heute
Wagners «Parsifal» mit Romeo Castellucci und Hartmut Haenchen in Brüssel

«Mein Name ist Romeo Castellucci», ruft der schöne junge Mann von der Rampe aus ins Publikum. Schweigend zwängt er sich dann in Kittel und Hose, beides schwarz und dick wattiert, worauf aus einer Meute kläffender Schäferhunde, die am Bühnenrand angekettet sind, eine Bestie nach der anderen losgelassen wird. Gleich bei der ersten Attacke stürzt der Mann, bald haben sich drei der Tiere in seine Arme und Beine verbissen – dann: ein Pfiff, und die Hunde eilen hinaus. Natürlich sind die Tiere abgerichtet. Dennoch geht etwas Elementares von diesem szenischen Moment aus; er wirkt viel stärker als die Reality-Shows mit ihren Moulagen, die zu späterer Stunde im Fernsehen laufen.
Stoff für Träume
Zu sehen war das 2008 beim Festival von Avignon, wo Romeo Castellucci und seine Truppe mit «Inferno, Purgatorio, Paradiso», einem Triptychon frei nach Dante, aufgetreten sind (inzwischen gibt es das auf DVD). Ganz Ähnliches ist jetzt in der Brüsseler Monnaie zu erleben: bei «Parsifal», dem Bühnenweihfestspiel von Richard Wagner, mit dessen Inszenierung Castellucci zum ersten Mal die Musiktheaterbühne betritt. Wie Christoph Schlingensief 2004 in Bayreuth reagiert er auf das mächtige Werk und seine einschüchternde Rezeptionsgeschichte mit der geballten Radikalität seiner szenischen Handschrift. Und wie es bei Christoph Marthaler, einem anderen Erfinder grossartiger Theaterträume, bisweilen der Fall ist, prallt Castellucci mit seinen Visionen am ehernen Panzer des Werks ab. Ungern schaut man keineswegs zu, doch unter dem Strich, so der Eindruck am Ende der fünfstündigen Reise, bleibt ein doch etwas schmächtiges Ergebnis zurück.
Von der sakralen Einkleidung des «Parsifal», vom Karfreitag, vom letzten Mahl und vom kraftspendenden Blut des Grals, mag Castellucci nichts wissen. Die heilige Handlung dient ihm vielmehr zu einem im Grunde bitterbösen Blick auf gesellschaftliche Verhältnisse unserer Tage. Die Gegend um die Burg Monsalvat, wo der Gral gehütet wird, ist bei ihm ein undurchdringlicher Wald – so undurchdringlich wie jene eigentümliche Männergesellschaft um den alten Titurel und den an einer unheilbaren Wunde leidenden Amfortas. Kaum sind die Figuren des Geschehens auszumachen, denn der treubesorgte Türhüter Gurnemanz wie die gefallene Kundry sind vom Regisseur, der auch die Ausstattung besorgt hat, mit Tarnanzügen versehen, die sich mit ihren Blättern und Ästen ganz der Umgebung anpassen. Dann und wann scheint ein Gesicht auf, aber auch das eher selten; meist herrscht Dunkelheit und scheint der Gesang aus dem Off zu kommen. Das ist mehr als episch, ja fast konzertant. Als Theaterbild gibt es freilich den Stoff ab, aus dem Träume gemacht sind.
Der Schäferhund kommt auch vor: ein lieber Kerl, folgsam und offenkundig musikalisch. Auch eine hautfarbene Schlange hat ihren Auftritt; wenn sie sich verknotet und in die Höhe reckt, erinnert sie durchaus an ein gewisses Körperteil. Zu Recht, denn im zweiten Aufzug, wo der böse Klingsor seine Blumenmädchen tanzen lässt, geht es, auf einer in klinischem Weiss gehaltenen Bühne hinter einem nochmals klinisch weissen Tüllvorhang, um das Geschlechtliche an sich, das die Gralshüter so hartnäckig ausblenden. Chef in diesem Reich ist ein Dirigent mit Frack und einem Taktstock, der ihm nach Bedarf aus dem Ärmel in die Hand schnellt. Und zu Diensten stehen ihm junge Frauen mit weissen Perücken und einem weissen Slip. Sie werden, die Choreografin Dasniya Sommer stand dem Regisseur dabei zur Seite, nach der japanischen Kunst des Shibari gebunden und in der Art sadomasochistischer Spiele verrenkt an Haken aufgehängt. Eine von ihnen trägt keinen Slip; sie legt sich auf einen weissen Altar und spreizt die Beine. Da wäre er denn zu sehen, des Pudels Kern. Auch das eine ganz einfache, wohl doch zu einfache Aussage zu einem der komplexesten Stücke der Musikgeschichte. Aber als theatralischer Vorgang und in der kaum überbietbaren Zuspitzung ist es von hohem Reiz.
Im dritten Aufzug schliesslich werden die inzwischen geschürzten Knoten mit Hilfe eines gewaltigen Rituals gelöst – doch darum geht es nicht bei Romeo Castellucci. Gurnemanz und Parsifal, der selbstverständlich ohne Rüstung und Lanze, stehen ganz vorn am Bühnenrand, während aus der Tiefe der Bühne über deren ganze Breite hinweg eine Menschenmasse sich fast unmerklich heranschiebt. Vorn angekommen, gehen diese Menschen, die soeben aus den Gassen rund ums Theater hereingekommen scheinen, unablässig weiter, denn unter ihren Füssen ist ein Laufband in Gang gesetzt worden. Abgesehen davon, dass das zu einiger Geräuschimmission führt, nützt sich das Bild rasch ab, und da kann die Zeit dann lang werden. Statt des erlösenden Grals erscheint das Publikum im Licht – da winkt der Zaunpfahl doch recht arg. Und wenn sich die Menschen auf der Bühne wieder verlaufen, bleiben Kundry, die nicht stirbt, sondern eine der Unsrigen geworden ist, und Parsifal zurück – er schliesslich allein und als einer, der nicht weiss, was ihm hier geschehen.
Kammermusik
In ihrer metaphorischen Bildwirkung erinnert Castelluccis Inszenierung von ferne an jenen Ansatz, den Pierre Audi vor bald fünfzehn Jahren in seinem Blick auf Wagners «Ring» an der Oper Amsterdam entwickelt hat. Wie damals steht beim neuen Brüsseler «Parsifal» Hartmut Haenchen am Pult – womit nun doch noch kurz vom Musikalischen die Rede sein soll. Der deutsche Dirigent ist auch ein scharfsinniger Forscher, und das ist hier zu hören. Seine Tempi sind nicht schnell, auch wenn die Dauer der Aufführung ungefähr jener gleicht, die Pierre Boulez in den frühen siebziger Jahren in Bayreuth erreicht hat – und die zu Wagners Zeiten daselbst galten. Die Zeitmasse sind vielmehr ausserordentlich differenziert nach dem Langsamen wie dem Schnellen hin, was oftmals ungewohnte Höreindrücke zutage fördert. Umhören muss man auch im Klanglichen, denn Haenchen setzt selten auf schwelgerischen Sound als viel eher auf kammermusikalische Trennschärfe. Wäre das Brüsseler Opernorchester noch so gut in Form wie seinerzeit mit Kazushi Ono, klänge das alles noch eine Spur interessanter.
Gesungen wird ordentlich – aber das Vokale erscheint in dieser Produktion ohnehin bloss als Teil eines Ganzen und nicht einmal als der wichtigste. Mit ihrer herrlich dunklen Tiefe gibt Anna Larsson eine verführerische, doch nirgends exaltierte Kundry. Tómas Tómasson ist ein schwarzer Klingsor, Thomas Johannes Mayer ein glänzender Amfortas, der seine riesige Wunde, welche die Form einer Vulva annimmt, vergessen macht. Sehr berührend Jan-Hendrik Rootering als Gurnemanz, nur der Parsifal von Andrew Richards nimmt nicht so recht Kontur an. Grossartig indessen, dass fast jedes Wort zu verstehen ist. Es ist der Unerfahrenheit des Regisseurs im Handwerk des Musiktheaters, in erster Linie aber dem Dirigenten zu verdanken.
Peter Hagmann
Copyright © Neue Zürcher Zeitung AG