Opern

Dresdner Neueste Nachrichten, 06. Mai 2003
Das verkopfte Monstrum sägt unerbittlich am Gemüt

Auf den ersten Blick besteht kaum Grund, sich 16 Stunden der Bahn auszuliefern, um nach Amsterdam und zurück zu rollen. Denn Willy Deckers Regie von Bernd Alois Zimmermanns (1918-1970) Lenz-Oper "Die Soldaten" war 1995 und 1998 schon in Dresden zu sehen. Mit Erfolg: 21 meist ausverkaufte Vorstellungen erlebte die vielleicht wichtigste Oper der zweiten Jahrhunderthälfte hier. Aber mit Einschränkungen: Die ungeheuren Massen an Musikern, die der Komponist für sein Hauptwerk bemüht, waren in der Semperoper nicht unterzubringen, wurden von den Probebühnen zugespielt, kamen vom Band - hatten keinen Kontakt zum Dirigenten.
Das ist in Amsterdam anders. Das Haus ist so groß, so flexibel, dass hier alles geht. Hartmut Haenchen, der derzeit zwischen Dresden, wo er die bald beginnenden Musikfestspiele leitet, und Amsterdam pendelt, kann trotz alter Inszenierung auf eine Weltpremiere verweisen: "Diese Oper gibt es seit 40 Jahren - aber unsere ist die erste Produktion, bei der das ganze Orchester live spielt und mit einem Dirigenten auskommt."
Musikalisch gelingt ihm so ein Quantensprung, auch gegenüber der CD (Teldec). Bei diesen zweieinhalb Stunden ist kaum damit zu rechnen, dass auch nur annäherungsweise die Töne kommen, die die absurde Partitur verlangt. Haenchen bringt sie - und viel mehr. Er macht das polystilistische Monstrum sinnlich erfahrbar. Da wird Theatermusik, was als verkopftes Ungetüm verschrieen ist.
In Amsterdam sägt die trostlose Geschichte der Bürgertochter Marie, die als Soldatenliebchen unter die Räder kommt, unerbittlich am Gemüt. Weil Claudia Barainsky als Marie nicht gespreizte Intervalle über die Rampe keift, sondern auch in großen Septen Liebe, Angst, Hoffnung, Verzweiflung findet. Weil Isoldé Elchlepp als Gräfin aus Zwölftonreihen Menschlichkeit gebiert. Weil Frode Olsen (Wesener), Michael Kraus (Stolzius), Tom Randle (Desportes), ja fast alle Protagonisten dieser ungemein figurenreichen Oper sich zu einer Sternstunde versammeln. Dazu mag sie das Nederlands Philharmonisch Orkest inspirieren, das unter Haenchens präzisem, nicht verwaltenden, sondern gestaltenden Schlag zwischen betörender Zartheit und würgender Brutalität zu sensationeller Klasse aufläuft.
Deckers Inszenierung, die Zimmermanns multimediales Wollen auf das musiktheatralisch Notwendige verknappt und den Komponisten bisweilen vor seiner eigenen Plakativität schützt, ist unter der Aufsicht von Meisje Barbara Hummel bestens im Schuss. Die sprechenden Farbkontraste der Bühnenbilder (Wolfgang Gussmann) und Kostüme (Gussmann und Frauke Schernau) haben nichts von ihrem alptraumhaften Sog verloren.
Nach dem verstörenden Schluss ist erst die Stille, dann der Jubel grenzenlos. Und beim Premierenempfang diskutieren Amsterdamer und Gäste aus der ganzen Welt bis in die Nacht staunend darüber, was neue Musik bewirken kann, wenn sie nur gut gemacht wird.

Peter Korfmacher