Freie Presse, 16. Januar 2003
Aufschrei und Entsagung, Aufbegehren und Trost
Ein Höhepunkt der Saison: Hartmut Haenchen dirigiert das 5. Sinfoniekonzert der
Robert-Schumann-Philharmonie in Chemnitz
Chemnitz. Eigenartig erschien das Programm zunächst, mit dem Hartmut Haenchen (1943) nach seiner großartigen Karriere endlich in Chemnitz ein Sinfoniekonzert der Robert-Schumann-Philharmonie bestreiten konnte - hoffentlich nicht zum letzten Male. Aber wie so oft, täuschte auch hier der erste Blick, hatte doch die Eigenwilligkeit der Werkauswahl einen gemeinsamen Nenner, den Gedanken des Leidens, der Tragik und der Trauer. Es wird sich wohl kaum ein Komponist finden lassen, der dieses Thema nicht auch in Töne fasste, dessen unterschiedlichste Nuancen dabei bedenkend. Und wie das Konzert am Mittwoch besonders eindringlich bewies, bedarf es dabei nicht einmal der Worte, denn die Musik ist selbst stark genug, um Seelenqual und Klage, Aufschrei und Entsagung, Aufbegehren und Trost auszudrücken.
Der großen g-Moll-Sinfonie KV 550 von Wolfgang Amadeus Mozart, das mittlere, trotzige Werk aus der sinfonischen Trias vom Jahre 1788, geschrieben unter widrigsten Umständen, folgte Karl Amadeus Hartmanns Concerto funebre für Violine und Streichorchester. 1939 kurz nach Kriegsausbruch in der inneren Emigration komponiert, ist es ein Werk des Schmerzes, der bitteren Anklage und gellenden Schreie. Stimmt zuerst die Solovioline im langen Monolog den alten Hussitenchoral an "Die Ihr Gottes Kämpfer seid... dass Ihr schließlich siegen werdet", so führt sie das ungemein erregende Werk über den aggressiven Mittelsatz schließlich hinein in den bekannten russischen Revolutionsgesang: "Unsterbliche Opfer". Eine zutiefst ehrliche, daher überzeugende Musik. Nach der Pause noch einmal Mozart: Maurerische Trauermusik c-Moll KV 477, eine dunkel gefärbte Elegie, einst bestimmt für das Totengedenken einer Freimaurerloge, zwar Gebrauchsmusik, aber genial komponiert. Und danach Gustav Mahlers Symphonische Dichtung "Todtenfeier", die Urfassung des Kopfsatzes seiner 2. Sinfonie in c-Moll, die in großem sinfonischen Zug fragt "Warum hast du gelebt? Warum hast du gelitten?" und zum Ende tröstend mit dem Gesang von der "Auferstehung" antwortet. Hartmut Haenchen hatte mithin sein Programm sehr genau, sehr eindeutig konzipiert, nicht nur auf gedankliche, sondern vor allem auf die musikalischen Zusammenhänge bedacht, auf die unterschiedlichen Ausdruckssphären des übergreifenden Themas, auch auf die Vielfalt der Klangbilder.
Geschlossen wie das Programm war auch dessen Umsetzung. Haenchen ist der Souverän am Pult, ohne die Allüren eines Stars, nur konzentriert auf die adäquate Interpretation der Werke. Für die Musiker gab es dabei keinerlei Unklarheiten, weder bei den Einsätzen noch bei der Gestaltung von Phrasen oder geschmeidigen Überleitungen. Exakt zeigte er an, was er musikalisch erwartete. Details wurden daher sorgsam ausgearbeitet, klanglich regelrecht geschliffen, immer jedoch als wesentliches Element der Gesamtaussage. Die gern verwendete Metapher von der "Klangrede" hat hier uneingeschränkte Berechtigung. Für die Philharmonie war es gewiss eine harte, aber lohnende Arbeit, konnte sie doch vom ersten bis zum letzten Ton beweisen, auf welch hohem Niveau sie sich bewegt, technisch und interpretatorisch.
Wie dem Gastdirigenten dieses Abends geht auch der holländischen Geigerin Isabelle van Keulen ein ausgezeichneter Ruf voraus. Allgemein schätzt man ihre musikantische Vitalität und ihren Einsatz für Musik der Gegenwart. Insofern war sie prädestiniert für das Trauerkonzert von Karl Amadeus Hartmann, verlangt es doch dem Solisten alles an Virtuosität, vor allem aber an Ausdruckskraft ab. Wie behutsam Frau van Keulen die verinnerlichten Monologe anlegte, sie im Ton differenzierte und mit der inneren Energie unablässig auch die Intensität steigerte, das versetzte die Zuhörer unweigerlich in eine Spannung, die sich nur mit Beklemmung umschreiben lässt. Nachdem sie sich gelöst hatte, konnte allen Beteiligten nur mit Ovationen gedankt werden. Nicht anders am Ende des Konzerts, das ein Höhepunkt in der Saison war.
Werner Kaden