Sinfoniekonzerte

Esslinger Zeitung, 07. November 2011
Esslinger Zeitung, 7.11.2011 (wortgleich Cannstatter Zeitung)

Transzendierter Eros

Hartmut Haenchen musiziert Wagner, Zimmermann und Bruckner mit dem Stuttgarter Staatsorchester

Stuttgart - „Mönch als Dionysos“ lautet eines der originellen Mottos für die Sinfoniekonzerte des Staatsorchesters in dieser Spielzeit. Vordergründig bezieht es sich beim 2. Saisonprogramm auf Richard Wagners „Tannhäuser“-Ouvertüre. Wie die Musik hier zwischen frommem Pilgerchoral und Venusberg-Ekstasen zur Charakterisierung des Helden hin- und herschwingt, reißt die Spannung auf zwischen beiden Welten. Folgt man Hartmut Haenchens Wiedergabe im Beethovensaal, so ist er stark auf der Seite des französischen Dichters Baudelaire, der unter dem Eindruck der Pariser Aufführung „von Fieber und Angstanfällen zerrissene Wonnen“ diagnostizierte. Auch bei der Wiederkehr des Pilgerthemas flackert das Dionysische gewaltig, Wagners eigener Analyse eines „Jubels des aus dem Fluche der Unheiligkeit erlösten Venusberges“ mag man bei dieser Interpretation nicht so recht trauen.

Mit einem dionysischen Aufschrei des ganzen Orchesters setzt auch Bernd Alois Zimmermanns „Sinfonie in einem Satz“ von 1953 ein. Es ist ein faszinierend gewalttätiges Stück mit einem meditativen Andante im Zentrum, welches über zwei grelle Märsche von Schostakowitsch‘scher Expressivität ausstrahlt in kurze, apollinische Episoden, in denen Zimmermann einen irisierenden, fast statischen Klang erzeugt - vielleicht ein Reflex auf seine Philosophie der „Kugelgestalt der Zeit“, die sich in solchen Augenblicken zusammenfügt, während kaleidoskopartig spiegelbildlich zerstörte Vergangenheit und apokalyptische Zukunft sich davor und danach in erregter, explosiver Zerrissenheit mit äußerst effektvollen Kontrasten darstellen. Von Dirigent und Staatsorchester eine hoch differenzierte, überwältigende Wiedergabe, in der Zimmermanns „Soldaten“ schon wetterleuchteten.

In Anton Bruckners 3. Sinfonie sind die Gegensätze von einfachen melodischen Gedanken bis zu hoch komplexen Entwicklungen bis zum Extrem gespannt.

Untrüglicher Sinn für Proportionen

Die gipfelstürmenden Apotheosen sind hier noch nicht so geschichtet wie in seinen späteren Sinfonien. Doch schon das mächtige Unisono-Fanfarenthema zu Beginn des Kopfsatzes, das sich sofort prismatisch aufspreizt, die aufsteigende Chromatik und die choralartige Verklärung der folgenden Themenblöcke erzeugen ungeheure Kontrastwirkungen, die von Hartmut Haenchen mit untrüglichem Sinn für die Proportionen ausgeführt werden. Haenchens Fähigkeit, die Vielfalt der Orchesterstimmen in Bruckners epische Dramaturgie einzubinden, zeigt den Dresdener Dirigenten, der neben seiner umfangreichen Opern- und Konzerttätigkeit seit vielen Jahren das Kammerorchester Carl Philipp Emanuel Bach leitet, auch hier als differenzierenden Klanggestalter.

Zwischen Stillstand und Bewegung entfaltet sich, in immer neuen Aufschwüngen, das Andante, sehr tänzerisch nimmt Haenchen das Scherzo, dessen Ländler im Trio er gegenüber dem motorischen Kreisel des Hauptthemas breiter ausspielt. Schön, welche melodieselige Grazie er hier den Geigen entlockt, im umso schärferen Kontrast zu den um Taktbruchteile versetzten Unisono-Tutti der ekstatisch strahlenden Blechbläser. Von grandioser Geschlossenheit schließlich das Allegro-Finale, eine letzte Steigerung und Apotheose. Haenchens Bruckner-Interpretation hatte großes Format.
Dietholf Zerweck