Stuttgarter Zeitung, 09. November 2011
Sperrig und so richtig schön widerborstig
Hartmut Haenchen ist kein Dirigent, der es sich leicht macht mit der Musik, mit dem Musikbetrieb, mit dem Publikum. In einem Interview sagte er einmal: Ich habe ganz bewusst wesentliche Grundsätze der älteren Dirigenten-Generation für mich bewahrt, die heute schon den Charakter einer ausgestorbenen Spezies haben: an einem Platz, zu arbeiten, zu formen, aufzubauen und Klangkörper mit eigenem Charakter zu gestalten. Obwohl Haenchen also nicht den rasenden Roland gibt, von Podium zu Podium flitzend, mit dem Rollkoffer in der einen und dem Handy in der anderen Hand, ist er ein unermüdlicher, ein rastloser Arbeiter. Auch das ein unerschütterliches Prinzip dieses Dirigenten: Haenchen pflegt die spannungsreiche Kunst, dem Bekannten stets so zu begegnen, als sei es das Neue, das noch immer Unerhörte. Jetzt war Hartmut Haenchen am Pult des Staatsorchesters Stuttgart zu Gast, nach langer Zeit einmal wieder. Auf dem Programm, des Konzerts nur Musik, wie sie kontrastreicher kaum sein könnte, schöner sperrig und widerborstig aber auch nicht, schaut einer so klar und unerschrocken in die Partituren wie Hartmut Haenchen, prinzipienfest, aber nicht Prinzipien hätschelnd um ihrer selbst willen. Also hörte man die Ouvertüre zu Wagners "Tannhäuser'“ nicht als irgendwie harmonisch schwüles, lasziv verschwiemeltes Opus. Haenchen verlangte vom Staatsorchester äußerste Disziplin in der Ausgestaltung der bipolaren Anlage des Werks, das auf der einen Seite geprägt ist von einem kirchenmusikalisch verinnerlichten;
fast asketischen Tonfall, auf der anderen Seite ins Dionysische explodiert. Das geht zusammen, wenn dieser enorme Spannungsbogen eben so konsequent gehalten wird wie hier, jenseits von Detailverliebtem Pasticcio-Dirigieren und schlicht unanständig verharmlosender Warmingup-Performances.
Es folgte Bernd Alois Zimmermanns Sinfonie in einem Satz, in der zweiten Fassung aus dem Jahr 1953. Das Werk ist zugleich Retrospektive auf eine totgeglaubte Werkgattung und Abbild einer schmerzhaften intellektuellen Arbeit von
Zimmermann, der die Sinfonie nicht der Historie überantworten wollte. Wie der Komponist hier aus dem anfangs ins Offene schießenden Orchestertutti das schier katastrophisch zerfetzte Tonmaterial in Formprozesse zwingt, wie er all sein konstruktivistisches Können auf den Schliff von passgenauen musikalischen Formelementen verwendet, all das fordert in jedem Musiker den reinen Ästheten heraus. Haenchen und das Staatsorchester haben diese Herausforderung angenommen, mit akribisch schön polierten, fein ziselierten Klangflächen. Doch der Versuchung, einfach nur schön zu spielen, auch in den grimmig rhythmisierten Fortissimo-Passagen, mit denen Zimmermann seine nachgetragene Liebe zur sinfonischen Form auskomponierte, dieser Versuchung haben sie widerstanden.
Dann Bruckners dritte Sinfonie, in der dritten Fassung (1889), und also auch das Ergebnis einer langen schmerzhaften Auseinandersetzung mit dem Problem der Sinfonie. Was Zimmermann retrospektiv in etwa 17 Minuten verhandelt, umfasst bei Bruckner epische sechzig Minuten, einen ungeheuren Zeitraum, den Haenchen mit Verve und seinen Prinzipien treu gestaltete. Die Form war hier kein Ruhe-, sondern ein Spannungsbegriff und Melodie ist eine Folge des Rhythmus und nicht umgekehrt. Haenchen und das Staatsorchester Stuttgart verwendeten dafür ein mehr als nur sorgsam aufgefächertes dynamisches Spektrum sowie eine Klangfarbenpalette, wie sie schillernder kaum sein könnte. So faszinierend leicht wie tiefberührend wird dieser Klangmonolith nicht jeden Tag zur Aufführung gebracht.
Annette Eckerle