Kieler Nachrichten, 03. September 2001
(...) Vielmehr eine oft still nach innen gekehrte, dabei prägnante, stringente und äußerst transparente Lesart. Zerklüftet kam die Erste Abteilung daher. Ein scheinbar ungeordneter Haufen von Assoziationen, in der Bandbreite von Naturklängen bis zu Marschgerassel wehte den Hörer an, durchsichtig bis aufs Noten-Mark und in seiner Vielfalt provozierend unverständlich. Haenchen gab sich demonstrativ keine Mühe, die Brüche der Partitur zu kaschieren. Der zweite Satz, das Menuett, geriet unter Haenchens Händen so filigran feinverästelt, dass vom gesunden Tanzsatz auch nur ein Schatten blieb: die Welt der Fin-de-siècle-Salons verzerrt in einem zerbrochenen Spiegel. Im Scherzando-Satz begeisterte die ungewöhnlich rasch genommene Posthorn-Episode, herrlich von der Empore herab geblasen von NDR-Trompeter Matthias Höfs. Keine Spur mehr von der hier oft kitschigen Trivialität, sondern auch hier gespiegelte Erinnerung an vielleicht unbeschwerte Zeiten. Im berührend angsterfüllt menschlichen Format und nicht als aufgebläht orgelnde Weltanklage schwebten deshalb auch die von Jill Grove adäquat gesungenen Nietzsche-Worte "O Mensch! Gib acht!" herüber. Ätherisch leicht, zwischen Wunsch- und Wahnvorstellung changierend, läuteten die Himmelsglocken im vorletzten Satz: Schön korresponidierten die zurückgenommenen Frauenstimmen des NDR-Chores (Einstudierung: Werner Hagen) mit Hans-Christian Henkels souveränen Jungs vom Kieler Knabenchor. Dann die grosse, unerfüllte Sehnsucht des Finales.
Für Haenchen galt es nicht nur das bald begeisterte Publikum, sondern zunächst das NDR-Sinfonieorhcester von seinem ungewöhnlichen Ansatz einer konsequenten Verschlankung des "Riesenwerks" zu überzeugen. (...) Auf die Mahler-Aufnahmen, die Haenchen gerade mit dem Nederlands Philharmonisch Orkest vorbereitet, darf man besonders gespannt sein.
Christian Strehk