Sinfoniekonzerte

NRC Handelsblad, 06. März 2000
Hartmut Haenchen dirigiert in diesen Tagen, 120 Jahre nach dem Entstehen und 94 Jahre nachdem Mahler selbst seine revidierte und auf zwei Teile gekürzte Version in Amsterdam dirigierte, auf aufsehenerregende Weise die Niederländische Erstaufführung von Mahler's "Das Klagende Lied" als Teil seines drei Jahre dauernden, kompletten Mahler-Zyklus'.

Das Besondere an der Interpretation von Haenchen findet man nicht so sehr in den vielen oft auffallenden Unterschieden zwischen der Urversion und der revidierten Version der letzten zwei Teile. Das Außerordentliche ist, daß Haenchen das Stück nicht wie ein übermütiges Jugendwerk, das mit Sorge und Umsicht in eine gute Bahn gelenkt werden muß, behandelt. Haenchen nimmt den jungen Mahler vollkommen ernst und dirigiert das Werk mit einer Heftigkeit und einem Reichtum von Klangfarben, als ob es sich um "Das Nachtstück" der Siebten Sinfonie (1905) handelt.

Die unmittelbare, darstellende Kraft dieser Version ist in dieser heftigen und grellen Ausführung ergreifend, die Passagen, in den das Klagen der Flöte von einem Knabenalt und einem unwahrscheinlich hohen Knabensopran besungen wird, gehen durch Mark und Bein, irgendwo anders klingen donnernde, dumpfe Totenschläge. Die Niederländische Philharmonie spielt mit großem Engagement, die Solisten sind gut bis sehr zufriedenstellend, besonders gut der Alt Birgit Remmert, der Sopran Angela Denoke, der Tenor Christian Elsner und der Bariton Jochen Kupfer.

Haenchen ist in der letzten Zeit besonders intensiv. Mahler's Erste Sinfonie, womit der Zyklus eröffnet wurde, endete auf eine zügellose Weise in einem zuckenden Finale. Letzten Monat dirigierte er mit erstaunlicher Geschwindigkeit und Leichtigkeit "Die Meistersinger von Nürnberg" im Muziektheater. Und in "Das klagende Lied", mit seiner impulsiven Getriebenheit, seiner ungeheuren Extrovertiertheit, seinen scharfen Kontrasten und seinem rauen Relief, übertrifft Haenchen, was Aufregung angeht, alle Ausführungen, die ich je von diesem Werk, so wohl auf der Schallplatte, oder auch im Konzertsaal, gehört habe. Bei Boulez klingt dieser Mahler in der üblichen Version streng und tadellos geordnet, bei Rattle eindrucksvoll, aber bei Haenchen ist der junge Mahler heftig, wild und ungestüm. Diese Aufführung ist viel besser, eigensinniger und interessanter als damals die Weltpremiere unter Leitung von Kent Nagano und die von ihm verfertigte Schallplattenaufnahme.

Kasper Jansen