Westdeutsche Allgemeine Zeitung, 16. Mai 2001
Der Blick wurde frei auf den modernen Schubert
Bis zur Wiedereröffnung des Saalbaus als Philharmonie müssen die Essener Philharmoniker weitgehend allein die sinfonische Flagge in der Ruhrmetropole hochhalten. Sie tun das auf höchstem Niveau - nicht nur unter ihrem Chef Stefan Soltesz.
Diesmal war es als Gast Hartmut Haenchen, der den Abend im Aalto-Theater weit über den Rang eines Abonnenten-Konzertes heraushob. Der langjährige Generalmusikdirektor der Amsterdamer Oper formte die Aufführung von Franz Schuberts großer C-Dur-Sinfonie und Dmitri Schostakowitschs 1. Cellokonzert Es-Dur zu einem musikalischen Ereignis ersten Ranges.
Zudem gab es mit dem jungen Cellisten Daniel Müller-Schott eine Begegnung mit einer aufgeschlossenen, ganz im Dienste des Werkes stehenden Solisten-Generation.
Müller-Schott, der 1992 als 16-Jähriger den Tschaikowsky-Wettbewerb gewann, spielte Schostakowitschs Konzert ungemein intensiv, ja geradezu bekenntnishaft. Im Moderato gelangen ihm im Dialog mit dem Orchester berührende Momente. Die Cadenza geriet dank seiner absolut perfekten Grifftechnik und seines schnörkellosen, sprechenden Tons zum atemraubenden Lamento, dessen Aura sich wie ein unsichtbarer Zauber über das Publikum zu legen schien.
Ein großer Moment. Doch es waren auch die von Hartmut Haenchen wunderbar geführten Philharmoniker, die dem Abend hohe inspirierende Wirkung verliehen. Wieder einmal verblüfften die Essener mit ihren geschmeidigen Streicher und den vor allem beim Schostakowitsch überrumpelnd sicheren Bläsern.
Haenchen rückte die großräumig angelegte Schubert-Sinfonie in die NäheBruckners und Mahlers. Mit klarem Blick für Strukturen und thematische Zusammenhänge zeigte er Zerklüftetes und Widerborstiges in diesem durchaus nicht nur erhabenen Werk. Haenchen gab damit den Blick frei auf einen "modernen" Schubert, der in der Überwindung des erdrückenden Vorbildes Beethoven weit über seine Zeit hinauswies.
Michael Kohlstadt