Der Tagesspiegel, 09. Dezember 1983
Neues Licht auf Schubert
Berliner Philharmonisches Orchester mit Hartmut Haenchen
Der gebürtige Dresdner, Jahrgang 1943, namhaft bei uns spätestens seit der DDR-Erstaufführung von Aribert Reimanns "Lear" im Januar 1983, dirigierte das Berliner Philharmonische Orchester zum ersten Mal. Mit der großen C-Dur-Symphonie von Schubert versuchte und bewährte er sich an einer der schwersten Aufgaben. Sein Schubert ist weniger abgeklärt, versteht sich, als der des späten Karl Böhm, der noch als Vorbild im Raum steht; "Schärfster Ausdruck" im Sinn Robert Schumanns scheint Hartmut Haenchens Interpretation vorzuschweben, aus der eine gewisse junge Aggressivität spricht. Er hält die Begleitfiguren immer sehr vital unter dem wienerischen Tonfall, versteht es aber vor allem, die Tempi so voneinander abzuleiten und aufeinander abzustimmen, daß das Organische der Musik bewahrt bleibt. Darin übertrifft er manch renommierten Künstler. Wenn er ein Tempo "steht", erlaubt sich die physische Arbeit Hartmut Haenchens eine Sparsamkeit der Bewegungen, die die Böhms womöglich noch übertrifft. Die aus der Neubegegnung mit den Philharmonikern entstandenen minimalen Unstimmigkeiten konnten nicht in Frage stellen, daß dieser Dirigent seiner Interpretation sicher ist.
Sybill Mahlke