Sächsische Zeitung, 03. Juni 2013
Leben in allen Fasern
Hartmut Haenchen und die Stockholmer Philharmoniker lassen in der Frauenkirche Schuberts „Große“ leuchten.
Franz Schuberts „Große“, die fast einstündige C-Dur-Sinfonie, überforderte 1826 den Wiener Musikbetrieb derart, dass sie erst elf Jahre nach dem Tod ihres Schöpfers uraufgeführt wurde: Dank Schumanns Fürsprache dirigierte Mendelssohn das Werk 1839 in Leipzig. „Hier ist“, schwärmte Schumann in einem Brief, „noch Leben in allen Fasern, Kolorit bis in die feinste Abstufung“, und er feierte in Schuberts „Siebter“ dessen „völlige Unabhängigkeit“ von Beethoven. Falls sich jemand wundert: Die Sinfonie ist, je nachdem, ob frühe Fragmente und die „Unvollendete“ mitzählen, die siebte, achte oder neunte von Schubert. Die „Große“, D 944 im Werksverzeichnis, hat nicht nur die von Schumann gepriesene „himmlische Länge“. Mit ihrem blitzenden Einfallsreichtum offenbart sie auch metaphorisch Größe – die des weithin als „Liederschreiber“ verkannten Wiener Lehrersohns.
Der Ur-Dresdner Hartmut Haenchen, kürzlich 70 geworden und bis vor fünf Jahren Intendant der Dresdner Festspiele, beschenkte das Festival nun in der Frauenkirche mit einer beseelten, vitalen Deutung des außergewöhnlichen Werkes. Vom signalhaften Intro des Solohorns bis zum euphorischen Finale führte der Jubilar das Royal Stockholm Philharmonic Orchestra mit der ihm eigenen kargen, präzisen Gestik – wach, wissend, souverän. Berückend, wie im Andante die Kantilene der Klarinette auswehte, bevor die Celli mit energischem Staccato wieder Fahrt machten. Mitreißend, wie im Scherzo ein Streich den nächsten jagte – ein hintergründiger Streifzug durch den duftenden Kräutergarten der Kreuz-Tonarten, von E-Dur über fis- und h-Moll bis zum betörenden G-Dur. Atemberaubend der dynamisch exzellent austarierte, unaufhaltsame Aufstieg hinauf zum letzten Gipfel.
Das Spiel mit Tonartwechseln und rhythmischen Brechungen reizte Haenchen auch schon eingangs mit Joseph Haydns Londoner c-Moll-Sinfonie überzeugend aus. Klug dehnte er die Pausen, um den üppigen Kuppelhall in den Klangfluss schlüssig einzubetten. Nachdrücklich zügelte er seine 64 Königlichen Philharmoniker, um Ballungen zu vermeiden. Er wahrte Balance zwischen Strenge und Eleganz, Kraft und Transparenz – nicht viele lassen Haydn so amüsant und intelligent zugleich klingen.
Zwischen den Sinfonien kam Tabea Zimmermann zum Zuge, eine Meisterin der Bratsche mit starkem Faible für neuere Musik. Nur von Streichern begleitet, schritt, wandelte, schwebte sie durch Benjamin Brittens „Lachrymae“ in der Orchesterfassung von 1964: zwölf Reflexionen zu einem Renaissance-Song von John Dowland, spukig und dräuend, erhaben und kühn. Die Solistin wurde ähnlich gefeiert wie am Ende Dirigent und Ensemble, die sich mit zwei Zugaben, einer Pizzicato-Delikatesse Brittens und Schuberts unsterblichem „Rosamunde“-Adagio, vom beglückten Publikum verabschiedeten.
Jens-Uwe Sommerschuh