Texte

Haydn, Joseph: Haydns Orchester und die Cembalo-Frage in den frühen Sinfonien

Booklet-Text für die Einspielungen der frühen Haydn-Sinfonien

Eine vollständige PDF-Datei mit allen Fußnoten und Beispielen können Sie am Ende des Textes downloaden.

Joseph Haydns Orchester und die Cembalo-Frage in den frühen Sinfonien

Booklet-Text für die Einspielungen der frühen Haydn-Sinfonien für Berlin Classics 1028-2,1027-2, 0110 024, 0110 014, 0110 013, aufgenommen 1988–1990, nochmals veröffentlicht als Kassette mit 18 Sinfonien: 0002762CCC

Ausgehend von der künstlerischen Prämisse, dass wir für Hörer unserer Zeit - mit den Hörgewohnheiten und der Bildung unseres Jahrhunderts - musizieren, versuchen wir mit den Erkenntnissen der Musikwissenschaft in unserer Haydn-Edition alle neuen Forschungsergebnisse mit einzubeziehen, um die von unserem Komponisten beabsichtigten Wirkungen deutlich zu machen. Zunächst gilt es, eine Besetzungsgröße des Orchesters festzustellen. Die Dokumente aus Eszterhazy sind zahlreich und die Orchestergröße schwankte zwischen 14 und 7 Streichern zuzüglich der benötigten Bläser. Die Dokumente beweisen, dass manche Mitglieder des Orchesters in Eszterhazy zwei und mehr Instrumente beherrschten. Auch benutzte Haydn die „Thurnermeister" für zusätzliche Trompeten und Pauken. Immerhin verzeichnet die Musikinstrumenten-Inventarliste von Eszterhazy allein 15 (meist sehr gute) Violinen. Wir gehen in unserer Einspielung von einer Basis-Besetzung von 5-4-3-3-1 aus (also der größten überlieferten Besetzung aus Eszterhazy), die bei den späteren Sinfonien um bis zu 5 Streichern vergrößert wird. Der englische Musikwissenschaftler James Webster, der eine CD-Serie mit Haydn-Sinfonien betreute, geht davon aus, dass die kleinste Besetzung die richtigste ist. Wir denken eher, dass es finanzielle Gründe waren und mit der Raumgröße zu tun hatte, dass Haydn nicht immer seine Wünsche bezüglich der Orchestergröße erfüllt bekam. Da der Klang des kleinen Saales, in dem die frühen Sinfonien in Eszterhazy uraufgeführt wurden durch die heutige Technik unter normalen häuslichen Abhörbedingungen nicht vollständig zu rekonstruieren ist, versuchen wir den Eindruck unserer Live-Aufführungen in größeren Räumen durch die Aufnahmen widerzuspiegeln.
Obwohl wir grundsätzlich auf modernen Instrumenten spielen, sind die Spielweisen der Zeit mit heutigen Mitteln wiedergegeben. Die Stimmung ist auch die heute übliche, um die damals besonders wichtigen Tonartencharakteristiken und die damit zusammenhängenden Affekte darstellen zu können. Die Bogentechnik beruht hauptsächlich auf den Regeln Leopold Mozarts, dem Altersgenossen Haydns. Durch den Einfluss der wissenschaftlichen Arbeiten von H.C.Robbins Landon in den 50er Jahren veränderte sich die Aufführungspraxis in unserem Jahrhundert. Die Orchesterbesetzungen wurden kleiner und es wurde auch begonnen, das Cembalo in die frühen Werke einzuführen. H.C.R. Landon beschrieb 1955 in The Symphonies of Joseph Haydn, die tatsächliche Musizierpraxis, dass während des 18. Jahrhunderts das Orchester vom Cembalo aus geleitet wurde, um fehlende Harmonien zu ergänzen und den strukturellen Unterbau zu verdeutlichen, das rhythmische Gefüge zu sichern und auch eine Farbe im Orchester darzustellen. Aufführungen ohne Cembalo bezeichnete er als „großen Irrtum". Später (1980 ) spezifizierte er diese pauschale Meinung. Dabei wird deutlich, dass tatsächlich nur in der Sinfonie Nr. 7 Basso continuo in den zahlreichen überlieferten Kopien vorgeschrieben ist, was nur die Mitwirkung des Cembalos bedeuten kann, da alle anderen Instrumente extra aufgeführt sind. Von der Sinfonie Nr. 98 wissen wir, dass Haydn selbst ein Cembalo (Hammerklavier)-Solo spielte.

Mit der Veröffentlichung von James Websters Artikel in der Zeitschrift Early Music im November 1990 „On the absence of keybord continuo in Haydn´s symphonies", wurde diese Praxis in Frage gestellt, und unkritische Kritiker übernahmen die „neue Lehre", die Sinfonien grundsätzlich ohne Cembalo zu spielen, als Credo. Die wissenschaftliche und musikalische Betrachtung brachte uns aber doch zu anderen Ergebnissen.

Webster akzeptiert und unterstreicht als erwiesen, dass Haydn Opern und andere Vokalwerke sowie Teile der Kammermusik vom Cembalo aus leitete. Es würde bedeuten, dass die gleiche Musik, die Haydn zum Beispiel als Ouvertüren benutzt hat und andererseits in Sinfonien (z.B. Nr. 53) integriert, einmal mit Cembalo und einmal ohne Cembalo ausgeführt werden müsste. Zumindest das radikale Credo von Webster wird damit schon ad absurdum geführt. In jedem Fall sind damit zumindest die Möglichkeit und die Richtigkeit der Benutzung des Cembalos erwiesen. Webster behauptet, dass Kammermusik im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts - und er rechnet die Sinfonien dazu - ohne Cembalo aufgeführt wurde. Er bezieht sich dabei besonders auf Deutschland, das in der Aufführungspraxis besonders konservativ war. Das Gegenteil ist durch die Praxis der wichtigsten Musikzentren Dresden, Berlin, Mannheim usw. leicht zu beweisen. Schließlich ist auch mit der richtigen Feststellung, dass Sinfonien oder Kammermusik teilweise vom Konzertmeister geleitet wurden, nicht bewiesen, dass deshalb kein Cembalo verwendet wurde. Bei Georg Pisendel und Johann Adolf Hasse an der Dresdner Hofoper lässt sich das vielfach nachweisen.

Auf der einen Seite bestätigt Webster, dass das Fagott durchaus als Bassinstrument mit eingesetzt wurde, auch wenn es in der Partitur oder den Stimmen nicht vermerkt wurde. Auf der anderen Seite benutzt er die gleiche Argumentation gegen die Verwendung des Cembalos. Das Fehlen von Bezifferung ist jedoch kein Beweis gegen die Benutzung des Cembalos. Schon bei Bach finden wir Partituren (und Stimmen) die nicht beziffert sind, die aber eindeutig als Orgel- oder Cembalo-Stimme benutzt wurden. Wenn die Komponisten wussten, wer das Continuo-Instrument spielte, konnten sie auch auf die Bezifferung verzichten. Man kann nicht die in dieser Zeit variablen Möglichkeiten der Besetzung (auch andere Instrumente z.B. Horn und Trompete waren austauschbar oder wegzulassen z.B. Sinfonie Nr. 33, 37, 39, 41, 42, 48, 53, 54, 57, 61) auf der einen Seite akzeptieren und auf der anderen Seite ablehnen, nur um an einer nicht zutreffenden Theorie festzuhalten.

Webster geht davon aus, dass Komponisten Werke für bestimmte Gelegenheiten schrieben. Das heißt auch für bestimmte Räume, bestimmte Musiker, bestimmtes Publikum! Das ist teilweise richtig. Richtig ist auch, dass der gleiche Komponist trotzdem immer bereit war, ein fertiges Werk, wenn möglich unter anderen Umständen und wenn nötig, in anderen Besetzungen wieder aufzuführen . Solange also der stilistische Rahmen der Aufführungspraxis der Zeit nicht verlassen wird, gibt es mehrere Möglichkeiten der Besetzungsgröße und der instrumentalen Ausführung. Die von vielen Sinfonien überlieferten Varianten beweisen das ebenfalls. Endlich gibt Webster selbst die Argumente für die Benutzung des Cembalos, indem er sagt, in größeren Räumen wurde das Cembalo als Continuo und Leitungsinstrument eingesetzt.

Werden denn in der Regel Haydn-Sinfonien in solchen kleinen Räumen heute noch aufgeführt? Der Prozentsatz dürfte minimal sein und selbst zu Haydns-Zeit waren die Aufführungen außerhalb des Hofes von Eszterhazy für damalige Zeit häufig und damit größer besetzt. Beweise für die Aufführung von Haydn-Sinfonien mit Cembalo sind durchaus zu finden. Joseph Martin Kraus beschreibt eine musikalische Akademie im Burgtheater (1783!) die von Kapellmeister Umlauf vom Cembalo aus geleitet wurde. Webster benutzt dieses Zitat um festzustellen, dass das Cembalo nur in größeren Räumen verwendet wurde. Was geschah dann bei Sinfonien die in Eszterhazy mit mehr als 14 Spielern aufgeführt wurden?

Bleiben musikalische Gründe: Webster argumentiert, dass die fehlende Harmonie Stilmittel sei. Die Praxis aber war anders. Gerade das Ausfüllen war die übliche Weise des Continuo-Spiels . Da keine stichhaltigen Gründe gegen das Cembalo in den frühen Sinfonien gefunden wurden, muss man von der überwiegenden Aufführungspraxis ausgehen und mit aller gebotenen Fantasie und Kenntnis ein Cembalo benutzen. Dabei versuchen wir, der kompositorischen Struktur mit allen Möglichkeiten des Continuo-Spiels zu folgen: vom tacet, taste solo, einfacher harmonischer Stütze über alle Formen des Arpeggio bis zu selbständiger Improvisation und Variation.

Zurück