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Mozart, Wolfgang Amadeus: Mitridate

Beitrag zum Programmheft des Royal Opera House Convent Garden. Fragen der Interpretation und Aufführungspraxis

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Wolfgang Amadeus Mozart: Mitridate, re di Ponto
Beitrag zum Programmheft der Produktion am Royal Opera House Covent Garden, London 1991 und De Nederlandse Opera, Amsterdam 1992

EIN WICHTIGER BRIEF

Während unserer ersten musikalischen Probe für diese Produktion empfingen wir einen wichtigen Brief von Harrison James Wignell:
„Some exciting news about Mitridate! Rita Peiretti of Torino discovered that the last tenor aria „Vado incontro al fato estremo” is note-for-note in Gasparini's Mitridate. I disagree with her conclusion, however, that „Mozart copied it note-for-note from Gasparini”. The singer Guglielmo D'Ettore (who sang „Mitridate”) in both productions obviously insisted in singing Gasparini's version. My conclusions and recommendations are as follows: an „autograph” exists of Mozart's actual version. This is the aria which should be substituted in your December production. It will be a „world premiere”.”
Die Verlockung, etwas Neues und Besonderes zu tun, ist groß, doch muß man sich, bevor man in das durch zahlreiche Kopien vorliegende Werk eingreift, alle Fakten noch einmal deutlich vor Augen führen:
Als der vierzehnjährige Mozart 1770 den Auftrag zur Komposition einer Oper für Mailand erhielt, war es eine der Bedingungen, daß er die Arien in Gegenwart der Sänger komponieren sollte. Die Rezitative mußten vorher nach Mailand geschickt werden. Viele Einflüsse stürmten auf den jungen Mozart ein. Der Vater stand mit seinem wohlgemeinten Rat und seiner erdrückenden Persönlichkeit hinter dem Sohn, die Sänger hatten Forderungen für ihre Stimmen und ihren Erfolg. Die Zeit für die Komposition war kurz (Mozart erhielt das Libretto erst fünf Monate vor der Uraufführung). Außerdem war Mozart der italienischen Sprache noch nicht vollständig mächtig.
Vater Mozart kannte die Werke Quirini Gasparinis (Hofkapellmeister in Turin). Eine Motette von Gasparini hielt er für so wertvoll, daß er sie abschrieb. Tatsächlich ist sie so gut, daß sie lange für ein Werk W.A. Mozarts gehalten wurde. Es ist auch anzunehmen, daß Vater und Sohn Gasparinis Vertonung von Mitridate studiert haben. So ist es erklärlich, daß die erste Fassung von „Ah benne fui” mit Gasparinis Komposition formal übereinstimmt. Auch andere Arien zeigen Verwandtschaften, die nicht nur auf den gleichen Text zurückgeführt werden können. In der Uraufführung sang die Sängerin der Aspasia im 3. Akt eine Arie, die nicht von Mozart vertont wurde und ebenfalls aus Gasparinis Mitridate stammte. Besonders schwierig und anspruchsvoll schien der Sänger des Mitridate (Guglielmo d'Ettore) gewesen zu sein. Er gab sich erst mit der fünften Fassung seiner ersten Arie zufrieden. Auch ein Rezitativ mußte noch einmal geschrieben werden.

Um die oben gestellte Frage nach der dritten uns überlieferten Änderung (das Weglassen der Original-Arie und deren Ersetzung durch die Gasparini-Arie) zu beantworten, ist es gut, die anderen Entwürfe zu studieren. So kann man feststellen, ob Wolfgang Amadeus nur Sängereitelkeiten nachgeben mußte, oder ob der erfahrene Sänger wirklich Verbesserungen bewirkte.
Der erste Entwurf Mozarts enthält deutliche Fehlbetonungen in der italienischen Sprache. Im zweiten Entwurf sind diese weitgehend korrigiert. Besonders im Mittelteil der Arie wird kein neuer Ausdruck gefunden und nicht die Tessitura bis zum zweigestrichenen c benutzt, die dem Sänger offensichtlich zur Verfügung stand. In den weiteren abgebrochenen Entwürfen zeigt sich vor allem eine verbesserte Behandlung der dramaturgisch wichtigsten Werte und die Verwendung des dem Sänger zur Verfügung stehenden Stimmumfanges. Diese, durch den Sänger bewirkten Verbesserungen vor Augen, wird deutlich, warum es falsch wäre, die - wenn auch original überlieferte - Arie wieder in das Stück einzufügen.
Die in allen vollständigen Kopieabschriften der Oper (das vollständige Autograph ist verschollen) überlieferte Arie von Gasparini muss also das Ergebnis der gemeinsamen Überlegungen von Wolfgang Amadeus, dessen Vater und dem Sänger des Mitridate gewesen sein und deswegen als endgültige Version aufgefaßt werden.

Leopold Mozart hat uns in seinem Brief vom 1.12. 1770 überliefert, in welche Zeitnot Wolfgang Amadeus gekommen war. Es ist wahrscheinlich keine Spekulation, anzunehmen, dass Mozart - wenn mehr Zeit zur Verfügung gestanden hätte - so lange an der Arie gearbeitet hätte, bis sie der Qualität der ersten Arie entsprochen hätte. Trotz der vorliegenden wissenschaftlichen Überlegungen haben wir auch noch den praktischen Test gemacht und die oben besprochene Arie ausgetauscht. Das Ergebnis war - entsprechend der wissenschaftlichen Einschätzung - von der zu erwartenden Wirkungslosigkeit.
Wie groß Mozarts Zeitnot war, wird deutlich, wenn man das unproportional kurze Finale betrachtet. In den frühen Kopien ist nur die Bassstimme überliefert, weil die anderen Stimmen zur Zeit der Kopie nicht fertig gestellt waren. In unserer Aufführung versuchen wir, durch eine Wiederholung diese Proportion etwas zu verbessern.

Es muss gesagt werden, daß in der Aufführungspraxis der Zeit die Einfügung anderer Kompositionen als normal empfunden wurde. Anläßlich der Uraufführung wurde nach jedem Akt ein Ballett von Francesco Caselli gespielt. Möglicherweise war auch darum ein großes Finale nicht notwendig.
Aus Idomeneo- eine Mitridate durchaus verwandte Oper - ist uns dieses Verfahren von Mozart selbst bekannt. Dem Bericht von Leopold Mozart zufolge wurden die Ballette bereits nach der zweiten Aufführung (von insgesamt 20) herausgenommen oder gekürzt. Wir haben deshalb nicht auf sie zurückgegriffen.

Das Orchester der Uraufführung bestand aus insgesamt 56 Musikern. (Mit 28 Violinen ein sehr großes Orchester für damalige Zeit). Wir versuchen, unter Berücksichtigung des Klanges der modernen Instrumente, dieser Orchestergröße zu entsprechen. Wir haben die verbürgte Mitwirkung von Flöten, Fagotten und Bratschen dort, wo diese nicht ausdrücklich vorgeschrieben sind, zu rekonstruieren versucht. Die von Mozart eingesetzten zwei Cembali werden mit unterschiedlicher Funktion verwendet. Für die Ausführungen der Streicherpartien wurden die Regeln der Violin-Schule Leopold Mozarts als Ausgangspunkt genommen.

Kadenzen und Verzierungen waren - entsprechend der italienischen Aufführungspraxis - vom Sänger der vorliegenden Komposition hinzuzufügen. Das Gleiche gilt für die Appoggiaturen in den Rezitativen. Ein Versuch der Rekonstruktion der Aufführungspraxis muß sich an der dramaturgischen Funktion der genannten Improvisationen orientieren und die Quellen so weit wie möglich einbeziehen. Wichtigste Quelle für Kadenzen sind die 19 Kadenzen zu drei Opernarien von J.Chr. Bach, KV 293e, die Mozart für so wichtig hielt, daß er seinem Vater schrieb, er möge sie ihm nach Mannheim schicken. Diese Kadenzen liegen nur in Berlin im Original-Manuskript vor, wurden nie veröffentlicht und demzufolge bis heute nicht mehr aufgeführt. Einige dieser Kadenzen werden in unseren Aufführungen verwendet, ebenso wie Modelle von J.A. Hiller und anderen Gesangslehrern der Mozart-Zeit in Neukompositionen nachempfunden werden. Andere Kadenzen sind von der stimmlichen Disposition und der freien Erfindung der Solisten beeinflußt.
Dem Vorbild der von Mozart vorliegenden Arie in der unausgezierten und ausgezierten Fassung KV 294 „Non so d'onde viene” entsprechend, haben wir versucht, den da capo-Arien die affektstärkende Steigerungen durch Verzierungen zu geben.

Die Besetzung einer solchen Opera seria stellt jeden Interpreten vor grundsätzliche Fragen. Zur Zeit der Uraufführung wurden viele Männerrollen (Sifare, Farnace und Arbate) von Kastraten gesungen.
Heute bieten sich vier Möglichkeiten für die Aufführung an:
1. Man kann alle Kastratenpartien von Frauenstimmen singen lassen, um die Gesangshöhe zu erhalten. Dabei entstehen aber Hosenrollen, die nicht vorgesehen waren.
2. Man kann alle Kastratenpartien von Männerstimmen singen lassen. Dann muss man - wie Mozart es in Idomeneo selbst getan hat - die Gesangshöhe verändern.
3. Man kann die - von der Gesangshöhe heute durch einen Altus ersetzbare - Partie des Farnace mit einem männlichen Darsteller besetzen und das Problem der Sopran-Kastraten durch Frauenstimmen zu lösen versuchen. Wir haben diese Lösung angestrebt.
4. Wie in der 3. Lösung kann man einen Altus besetzen und alle andere Partien der Kastraten durch Männerstimmen ersetzen. Damit erhält man dramaturgisch ein klares Bild der von Mozart beabsichtigten Rollenverteilung. Diese Lösung wird in der Amsterdamer Produktion angestrebt.

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