Texte

Wagner, Richard: Götterdämmerung

Booklet-Beitrag zur SACD-Ausgabe

Die Rheintöchter, die den Ring nicht zurück haben wollen

Wenn die Rheintöchter am Anfang des dritten Aktes von Götterdämmerung bitten, "Frau Sonne, sende uns den Helden, der das Gold uns wiedergebe!" wird ihre Bitte erhört und Siegfried kommt mit dem Ring, den er zuvor von Brünnhilde geraubt hat. Sie war sich der Wirkung und des Fluches des Ringes ebenso wenig bewusst wie Siegfried selbst. Für Brünnhilde war es: "Siegfrieds Liebe! [...] Sie wahrt mir der Reif. [...] Von meinem Ringe raune ihnen zu: Die Liebe ließe ich nie, mir nähmen nie sie die Liebe." Sie singt dies mit den Tönen des Fluchmotivs von Alberich, die Bedeutung des Fluchs nicht kennend, der somit für sie ohne Wirkung bleibt. So ist es verständlich, dass sie ihn nicht auf Drängen Waltrautes zurückgeben kann: "...und wie im Traume raunt´ er [Wotan, HH] das Wort: – 'des tiefen Rheines Töchtern gäbe den Ring sie wieder zurück, – von des Fluches Last erlöst wär´ Gott und Welt!'" Waltraute glaubt: "Der Welt Unheil haftet sicher an ihm." Sie weiß nicht genau um die Bedeutung des Ringes und kann es deshalb ihrer Schwester nicht überzeugend erklären. Für Brünnhilde ist der Ring das Liebespfand Siegfrieds. Das Symbol der liebelosen Macht verwandelt sich in ihrer Hand in das Symbol der machtlosen Liebe.
Siegfrieds Untreue gegenüber Brünnhilde ist nicht nur eine Frage des Vergessens durch den Zaubertrank Hagens, wie wir aus den Probenbemerkungen Wagners wissen, der szenisch deutlich machen wollte, dass Siegfried beim ersten Anblick einer Frau, die nicht wie Brünnhilde seine Tante ist (Gutrune), sofort in Liebe entbrennt. Der Zaubertrank bewirkt also nicht die Untreue, wie oft behauptet wird, sondern nur ein (teilweises) Vergessen.
So ist Siegfried durchaus auch für die Reize der Rheintöchter empfänglich und lässt es nicht auf sich sitzen, als "geizig" gegenüber Frauen beschimpft zu werden, weil er den Rheintöchtern vorerst den Ring nicht im Tausch für einen Bären als Beute geben will. Er ist in seiner Eitelkeit verletzt und will den Wassernixen gefällig sein (und sicher mehr als eine Gefälligkeit zurückhaben), denn er spiegelt die Situation zwischen ihnen und Alberich im Rheingold: Alberich verzichtete für das Gold auf die Liebe, Siegfried bietet das Gold für die Liebe. Die Rheintöchter aber nehmen den Ring vorerst nicht an, da der Fluch nur vom Ring genommen werden kann, wenn sein Besitzer dessen Bedeutung kennt. Aber weder Brünnhilde noch Siegfried kennen den Fluch und die Macht. Brünnhilde hat sie mit dem Verlust ihres göttlichen Wissens vergessen; für sie ist der Ring nur Liebespfand. Erst wenn Siegfried den Fluch wirklich kennt, erfüllt er sich auch. So stirbt er im Sinne dieses Fluches, Brünnhilde aber stirbt, um den Ring vom Fluch zu erlösen.
Interessant ist, dass der Ring letztlich nur als Symbol einer geistigen Haltung fungiert. Er kann von den Rheintöchtern darum auch zunächst nicht zurückgenommen werden, weil die Idee des Ring-Symbols Siegfried nicht bekannt und seine Entzauberung somit nicht möglich ist. Deshalb singen die Rheintöchter: "Behalt´ ihn, Held, und wahr´ ihn wohl, bis du das Unheil errätst, das in dem Ring du hegst... froh fühlst du dich, befrei´n wir dich von dem Fluch." Folgerichtig fragt Siegfried nach der Bedeutung von Fluch und Ring. Die Rheintöchter erklären jedoch nur die Wirkung des Fluches, nicht aber die Macht des Ringes.
Weil Wagner den Text von hinten nach vorne, die Musik aber chronologisch schrieb, gehört es zu den Merkwürdigkeiten des Textes, dass Siegfried am Ende der Rheintöchter-Szene singt: "Wohl warnte mich einst vor dem Fluch ein Wurm. [...] Der Welt Erbe gewänne mir ein Ring". Das kann er nicht gehört haben, denn am Anfang von Rheingold existierte er noch gar nicht und Fafners Satz "des Hortes Herrn umringt Verrat" hat Wagner beim Komponieren weggelassen. Wohl weiß Siegfried vom Waldvogel, dass der Ring „ihn zum Walter der Welt“ macht, doch Siegfried vertraut immer nur auf seine eigene Kraft und misst diesem Wort keine Bedeutung bei. Er gibt ihn auch an Brünnhilde als Zeichen der Liebe und nicht, um ihr die Macht über die Welt zu verleihen. Später ist Siegfried jedoch gern bereit, ihn für Liebe wegzugeben, denn diese Art von Macht, der er sich nicht bewusst ist, ist ihm gleichgültig: "für der Minne Gunst miss´ ich ihn gern." Da Siegfried sich aber durch die Rheintöchter mit der Vorhersage seines Todes bedroht fühlt, und er sich als Held in seiner Eitelkeit keine Schwäche leisten will, gibt er den Ring nun nicht mehr zurück. Damit stellt er ein Thema aus der Mythologie dar, dem man sehr häufig begegnet: Lieber sterben, als Angst haben. Die Rheintöchter wissen, dass sie den Ring noch am gleichen Tag erhalten werden: "Ein stolzes Weib wird noch heut´ dich Argen beerben; sie beut uns bess´res Gehör: zu ihr!"
Konsequenterweise ist auch die Funktion des Tarnhelms als zweites Symbol so zu interpretieren: Selbst sein Schmied, Mime, kann sich des Tarnhelms nicht bedienen, da er den spirituellen Sinn nicht kennt und auch Siegfried weiß mit ihm nichts anzufangen. Er singt in Götterdämmerung: "Dies Gewirk, unkund seiner Kraft." Hagen muss ihm erst die Wirkung erklären, die nun sogar über die aus Rheingold bekannte hinausgeht. Denn in Götterdämmerung verleiht er nicht nur die Kraft der Verwandlung, sondern auch die Möglichkeit, an jeden beliebigen Ort zu gelangen. Von letzterer Möglichkeit macht Siegfried aber zunächst keinen Gebrauch; er benutzt sein eigenes Schiff, vertraut seiner Kraft und gebraucht ihn nur, um die Gestalt Gunthers anzunehmen. Erst bei der schnellen Rückfahrt zu Gutrune setzt er die zweite Zauberkraft ein.
Die Symbole Ring und Tarnhelm wirken also nur mit dem Wissen der Besitzer um ihre spirituelle Kraft. Sie bleiben ohne Effekt, wenn dieses Wissen nicht vorhanden ist. Deswegen können die Rheintöchter den Ring in dem Augenblick, da er ihnen von Siegfried angeboten wird, nicht zurücknehmen, denn sie könnten den Fluch nicht von ihm wenden. Schließlich sei darauf verwiesen, dass der Ring sogar wirken kann und sich sein Fluch erfüllt, wenn der- oder diejenigen noch direkt vor der Besitzergreifung stehen. So geschieht es, wenn der Kampf der Riesen, der Brudermord aus Rheingold, sich beim Mord von Hagen an seinem Halbbruder Gunther wiederholt. Dieser Vorgang zeigt, dass die spirituelle Kraft wichtiger ist, als das Symbol selbst.

Das reine Auge des Erkennens

Beim Eintritt Brünnhildes im 3. Akt mit „Schweigt eures Jammers jauchzenden Schwall“ sind nach Wagners Bemerkung „Alle menschlichen Leidenschaften [...] in ihr getilgt, sie ist zum reinen Auge des Erkennens geworden.“ Wagner sagt weiter zu diesem Schlussgesang: „Den Leuten sagt sie gar nichts, es ist gleichsam eine großartige Vision.“ Das Auge des Erkennens und Visionen braucht jeder, der sich der Aufgabe stellt, den Ring zu interpretieren, auch wenn er das Stadium, welches Wagner hier für Brünnhilde vorschwebte, nie erreichen wird. Wagner hat 26 ½ Jahre seines Lebens daran mehr oder weniger intensiv gearbeitet. Eine einzige Interpretation gibt es für kein Meisterwerk, da sich ein solches durch Vielschichtigkeit aus der Masse anderer Werke heraushebt. Interpretation ist Annäherung oder sollte es nach meiner Meinung zumindest sein.
Die lange vor dem dirigierten Abend zu leistende Arbeit hat durchaus manchmal Verwandtschaft mit der des Sisyphus. Ausführlich habe ich in den vorangegangenen Booklets dargelegt, nach welchen Prinzipien wir diese Produktion vorbereitet haben.
Es sei hier darauf verwiesen, dass auch eine vollständig neue Edition des Rings nicht einfach aus dem Schrank genommen werden kann. Um ein Bild zu geben, mit welchen Details sich ein Dirigent auseinanderzusetzen hat, bevor er wirklich zum Musizieren kommt, habe ich in meinem Wagner-Büchlein „Von der Unvereinbarkeit von Macht und Liebe“ als Beispiel die Liste der Druckfehler in der Neuausgabe von Götterdämmerung, die bereits in der Version der neuen Wagner-Ausgabe gedruckt vorliegt, veröffentlicht. Sie zeigt, dass auch die neuesten Ausgaben sehr kritisch betrachtet werden müssen und grundsätzlich jede Note und jede Tradition hinterfragt werden sollte. Nur so kann man sich Wagner nähern.
Dessen Assistenten haben getreulich alle seine Bemerkungen aufgeschrieben und auch bei Götterdämmerung erhalten wir durch sie wichtige Einsichten in den von Wagner geforderten Interpretationsansatz. Töne und Rhythmen werden verändert , agogische Feinheiten werden angegeben , Sängern werden Interpretationshinweise gegeben , Noten werden im Orchester verändert , die Balance innerhalb des Orchesters festgelegt und Freiheiten der Sänger, die zur besseren Verständlichkeit führen, notiert bzw. Tempi für die bessere Verständlichkeit verändert . Schließlich sind zahlreiche Regieanweisungen überliefert, die manch offene Frage klären.
Die Nornen als die Gestalten der Zeit – Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft – sollen eine „großartige Objektivität“ ausstrahlen und sich „in der Aktion auf das Nothwendigste beschränken“. Immer wieder werden wir erinnert, dass alles „Im Zeitmaß“, „Sehr frisch“ und „niemals schleppen“ soll und dass Brünnhilde bei Ihrem ersten Einsatz einen „Dialog“ und „keine Arie“ gestalten soll. Auch werden wir angehalten, das heute übliche langsame Tempo von Waltrautes Erzählung gründlich zu überdenken. In Wagners Partitur steht entgegen der üblichen Aufführungspraxis: „Mäßig, doch immer wechselvoll belebt.“ Heinrich Porges bringt uns mit Wagners Bemerkung deutlich auf den richtigen Weg: „nie schleppend“ und „die wie von Fiebergluth erfüllte Hast Waltrautes muß immer durchklingen“. Auch beim Mannen-Chor haben sich entgegen Wagners Anweisungen bequemere Tempi durchgesetzt. In der Partitur steht eindeutig: „Zwei Takte so schnell wie zuvor ein Takt ¾.“ Dies ergibt ein sehr schnelles Tempo, welches die von Porges überlieferte Bemerkung Wagners umsetzt: „Trotziges Selbstgefühl, eine Furchtlosigkeit und einen merkwürdigen, fast Schrecken erregenden Humor.“ Ein musikalisches Musterbeispiel für Manipulation der Massen!
Auch in den letzten Takten des Rings hat sich ziemlich ausnahmslos eine Aufführungspraxis eingebürgert, die durchaus nicht Wagners Intentionen der musikalischen Schlusslösung entspricht. Immer hört man eine Generalpause zwischen Untergang und Liebeserlösung. Wagner komponierte aber das Auftauchen des Liebeserlösungsmotivs in den Lärm des Unterganges als musikalische Überblendung, da nur die Liebe die Alternative zu Macht und Verträgen ist und die Welt von ihrem Leid befreien kann. In der Partitur stehen unmissverständlich fortissimo und piano übereinander und eine Pause ist durch nichts belegt. Die Liebeserlösung entsteht ja auch nicht als etwas Neues – schließlich taucht das Motiv bereits in Walküre auf – sondern als Ergebnis des von Brünnhilde bewusst herbeigeführten Liebes-Opfertodes, der den Weg frei macht für die Möglichkeit einer besseren Welt. So beschreibt Wagner musikalisch genau, was viele Interpreten allerdings nicht beachten, da sie es im Gegensatz zu Wagners Willen nicht ineinander verweben sondern gegeneinander absetzen: Aus dem Götterdämmerungsmotiv erscheint zunächst unhörbar das Liebeserlösungsmotiv. Die Hoffnung ist zart und blüht aus dem Untergang hervor. Der Untergang war notwendig, um mit Brünnhildes Liebe und Weltkenntnis etwas Neues aufzubauen. Mit dieser Hoffnung bleibt der Hörer zurück.

Hartmut Haenchen

Zurück