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Er kannte unsere Schwächen und Vorzüge
Rudolf Mauersberger zu Ehren, 1977
Zurückgekehrt von einer der zahlreichen Reisen der Dresdner Philharmonie, „erwischte“ mich eine Grippe so heftig, daß ich während eines Konzertes in Dresden nicht wußte, ob ich die folgende Sinfonie noch durchstehen würde. Der Arzt riet mir ab, weiterzudirigieren. In der Pause gingen meine Gedanken zurück in meine Kinderzeit. Ich sah Rudolf Mauersberger während einer Aufführung des Weihnachtsoratoriums – damals noch in der Martinskirche -, wie er vor uns stand und mit hohem Fieber sämtliche sechs Kantaten dirigierte. Ich hörte ihn mit seiner rauhen Stimme sagen: „Der Krankheit nachzugeben ist Schlamperei.“ So versuchte ich, wie schon oft, seinem Vorbild der Strenge gegen sich selbst zu folgen. Er lehrte uns Kruzianer durch seine Persönlichkeit: Nur wer sich selbst bis zum Äußersten fordert, darf und kann andere fordern. Und er forderte viel von uns! Er verlangte aber auch sich selbst das Letzte ab und war glücklich, wenn er dem selbstgesteckten Ziel näher kam und eine Aufführung seinen Vorstellungen entsprach. Dann konnte er der gelöste Mann sein, der voller Herzlichkeit seinen Jungen durch die Haare fuhr und dabei sich mit den kleinen Sorgen beschäftigte, die für einen jungen Kruzianer die großen Sorgen waren. Oder er drehte einen sanft am Ohr, um zu sagen: „Erst spielst du Fußball, dann bist du zu müde in der Probe!“ Arbeit verlangt Ernsthaftigkeit, und die forderte er unerbittlich vom jüngsten bis zum ältesten Kruzianer, und dennoch war diese Arbeit verbunden mit einer erstaunlichen geistigen Liberalität. Er kannte uns alle, nicht nur mit Namen, sondern mit unseren Schwächen und Vorzügen, mit unserer Familiengeschichte – auch noch nach vielen Jahren, wenn man längst den Chor verlassen hatte. Wir waren die Familie, die nicht aufhörte zu bestehen, nur weil die Zeit des Kruzianerseins vorbei war. In seiner Herzlichkeit und seiner Fürsorge konnte man sich geborgen fühlen. Daran änderte auch kein Zornesausbruch etwas, weil es ihm selbst dann immer um die Sache ging. Sein Zorn nahm auch keine Rücksicht auf die immer zahlreich versammelte Gemeinde und machte sich oftmals recht deutlich Luft.
Ich bekam ihn zu spüren, als ich – mit Zittern und Zagen! – das erste Mal eine der Marien in der Ostermette zu singen und zu spielen hatte. Trotz des schrecklichen Lampenfiebers ging alles ganz gut bis zu der Stelle in Heinrich Schütz’ Osterdialog, bei dem ich dem „Maria!“ des Männerchores auf der Orgelempore zu antworten hatte, und mein Blick mußte vom Altarplatz über die tausendköpfige Gemeinde zur Orgelempore gehen...Ich verpaßte den Einsatz und wäre gern vor Scham versunken, als es da zischend tonlos, aber unüberhörbar durch die ganze Kirche klang: „Flasche!“ Wie dann das ganze zu Ende ging, weiß ich nicht mehr. Trotzdem sang ich es noch mehrere Jahre, denn solcher Zorn verrauchte wieder, und Rudolf Mauersberger half einem, es das nächste Mal besser zu machen.
So erinnerte ich mich auch einer anderen Begebenheit, die für meine musikalische Entwicklung sehr wichtig war: Nicht nur das Singen seiner Jungen interessierte ihn, sondern auch die allgemeine musikalische Bildung. Es fanden regelmäßig Vorspiele statt, um das instrumentale Können zu überprüfen um den Besten dann als Belohnung ein Stipendium für den Instrumentalunterricht zu geben. Als etwa Dreizehnjähriger komponierte ich leidenschaftlich, ohne – von einem gelegentlichen Blick in ein altes Lehrbuch abgesehen – das theoretische Grundwissen zu besitzen. Nach mehreren Versuchen spielte ich dem Professor bei einer solchen Gelegenheit ein längeres Stück vor, und wenn ich mich recht erinnerte, muß es eine schrecklich dilettantische Mischung aus Brahms, Liszt und Schütz gewesen sein. Er hörte mit Interesse zu. Nach meinem Wüten auf dem Klavier erwartete ich eigentlich nichts sehr Freundliches. Grundsätzlich förderte er jedoch jedes selbständige Beschäftigen mit der Musik, und deshalb ermunterte er mich, fortzufahren und ihm andere Versuche vorzulegen, mich zuvor aber mit Kontrapunkt zu beschäftigen. Sogar das Stipendium für mein sehr bescheidenes Klavierspiel erhielt ich, damit ich das „eigene schwere Zeug spielen könne“. In dieser Zeit führte er mich langsam an eine Präfekten-Tätigkeit heran und überließ mir zunächst Stimmproben. Er förderte in mir bewußt meinen Berufswunsch, Dirigent zu werden. Als ich nach meinem Studium von ihm das Angebot erhielt, als Stimmbildner am Kreuzchor zu arbeiten, und ich ihm antwortete, daß ich doch lieber als Dirigent nach Halle gehen möchte, konnte er mich verstehen; und er schrieb mir später herzliche Wünsche für „viel Erfolg und Freude an dem Beruf, der ja das Gute an sich hat, daß er nie langweilig wird“.
Wesentliche Grundlagen für meine Arbeit habe ich seinem Vorbild an Beharrlichkeit, Selbstlosigkeit, Härte und Freundlichkeit, an Geben und Fordern und an echtem aufrichtigem Gefühl zu verdanken. Mit tiefer Freude hörte er von den beruflichen Erfolgen seiner ehemaligen Kruzianer, und er war glücklich, wenn er später bei anderen seine Anregungen weitergeführt sah. Sein letzter Brief an mich schloß mit der Frage nach meinem Kinderchor: „Wieviel Jungens haben Sie dabei?“
Mit Verehrung und tiefer Dankbarkeit erinnere ich mich an Rudolf Mauersberger, und ich bin wahrlich nicht der Einzige...
Haenchen, Hartmut: Er kannte unsere Schwächen und Vorzüge. In: Begegnungen mit Rudolf Mauersberger. Lebensweg und Lebensleistung eines Dresdner Kreuzkantors. Hrsg. von E.H. Hofmann und I. Zimmermann. 6., durch Neubearbeitung veränderte Auflage. Berlin: Evangelische Verlagsanstalt 1977, S. 87-88.