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Zu einigen Problemen bei der Ausbildung von Dirigenten
Beitrag geschrieben für das Buch Musikstudium, Musikpraxis, Verlag Neue Musik, 1984
Die Auswahl
Jeder Lehrende im Fach Dirigieren hat die Erfahrung gemacht, daß die Aufnahmeprüfung besonders problematisch ist, weil die Interessenten sich nicht mit ihrem Instrument, dem Orchester oder dem Chor, vorstellen können. Es könne im Grunde also nur die um das eigentliche Problem der Orchesterleitung herum liegenden Teilaspekte geprüft werden. Diese bekannte Tatsache deckt sich mit der Erfahrung, daß ein hoher Prozentsatz der führenden Dirigenten auf Umwegen zum Dirigenten geworden ist, obwohl der Berufswunsch schon immer feststand und damit eine der wesentlichen Voraussetzungen: ein unumstößlicher Wille. Die andere Erfahrung zeigt, daß Studenten mit guten Hochschulnoten in subalternen Positionen verbleiben. Diese Erfahrungen müssen zu dem Schluß führen, daß bei der Beurteilung in den Aufnahmeprüfungen größeres Gewicht auf die Persönlichkeit des Kandidaten gelegt werden muß. Natürlich soll das keine der grundlegenden musikalischen Anforderungen herabsetzen, doch läßt sich auch unter heutigen gesellschaftlichen Voraussetzungen nicht hinwegreden, daß Dirigieren letztlich autoritär ist, auch wenn die Mitarbeit aller Mitwirkenden noch so konstruktiv und intensiv ist.
Gerade im Hinblick auf die Leitung von Chören müssen entscheidende Ansätze vorhanden sein, andere Menschen persönlich zu motivieren und zu begeistern. Insbesondere das Laienschaffen lebt davon. Hier müssen sich auch Talente zum Organisieren von Arbeitsprozessen zeigen, ohne die ein Dirigent nicht auskommt. Bei den ersten Kandidaten sind solche Dinge im persönlichen Gespräch herauszuhören, und sie zeigen auch den entsprechenden Willen, diesen und nur diesen Beruf zu ergreifen.
Dirigieren ist Interpretation
Im Wort Interpretation liegt schon eine wesentliche Antwort auf die zahlreichen Fragen, die sich damit verbinden. Betrachten wir die Arbeit des Dirigenten im Sinn des lateinischen Wortes als Vermittler, Erklärer, Deuter, dann ist seine Funktion richtig umschrieben, doch lassen auch diese Worte viele Fragen offen, die sich zwischen den Polen Rekonstruktion und Manipulation bewegen oder zwischen Objektivismus und Subjektivismus. Der von Igor Strawinsky verfochtene Stil der objektiven Interpretation ist als Gegenreaktion auf die ausufernden Freiheiten der Spätromantik verständlich und zu seiner Zeit auch notwendig, doch ist auch seine Notation von Musik nicht objektiv im eigentlichen Sinn des meßbaren Wertes. Metronomische Angaben sind hilfreiche Anhaltspunkte, die aber selbst Komponisten (einschließlich Igor Strawinsky und Béla Bartók) nicht immer korrekt einhalten, damit fällt auch schon die einzige wirklich meßbare Kategorie der Ausführung als exakte Größe weg. Wenn man erfahrene Interpreten fragt, so wissen sie sehr wohl um den Unterschied von Tempo und Bewegung, und hier liegt auch der Spielraum für den Dirigenten. Ausgangspunkt ist eine objektive Größe, die in ihrer subjektiven Wirkung erkannt, und durch den „Vermittler” für den Hörer deutlich gemacht werden muß. Betrachten wir andere Größen der Notation: Was ist ein Forte bei Johann Sebastian Bach oder bei Anton Bruckner, was ein Staccato bei Wolfgang Amadeus Mozart oder bei Arnold Schönberg? Was ein Akzent bei Franz Schubert oder bei Paul Dessau? Die Liste der Fragen ist endlos, wenn wir nach objektiven Größen in der Musik suchen wollen. Trotzdem soll diese Feststellung nicht dazu verleiten, jede beliebige Form der Ausführung als zulässig zu betrachten. Der mögliche Rahmen für die „Erklärer” muß durch ein hohes Maß an Wissen abgesteckt werden. Dieses Wissen muß - wenn es umfassend genug ist - zu der Erkenntnis führen, daß die von den Verfechtern der objektiven Interpretation ausgegebene Losung: „Notentreue ist gleich Werktreue” weitgehend Unsinn ist.
Nehmen wir ein gängiges Beispiel: Johann Sebastian Bachs Brandenburgisches Konzert Nr. 3. Noch immer kann man den ersten Satz schwer und behäbig hören, den 2. Satz nur als harmonische Überleitung und den 3. Satz mit ewig gleichmäßigen Noten gespielt. So steht es da. Gerade auch Johann Sebastian Bach, der unter seinen Zeitgenossen dadurch auffiel, daß er die vorausgesetzten Freiheiten der Interpreten durch relativ genaue Notation einschränkte, läßt trotzdem noch ein hohes Maß an Freiheit neben dem Notentext. Hier muß nun der Dirigierunterricht ansetzen und Hilfen geben. Man muß wissen, daß uns Bach für den ersten Satz durch die Verwendung der gleichen Musik in der Kantate BWV 174 einen unschätzbaren Anhaltspunkt für die Ausführung gegeben hat, der selbst von einem heute so oft kopierten Meister wie Nikolaus Harnoncourt nicht berücksichtigt wird. Im Zusammenhang mit dem Text dieser freudvollen Pfingstkantate und der anderen Instrumentation (Hinzufügung von 4 Holzbläsern und 2 Corni da caccia und der Aufspaltung in Tutti- und Solostreicher) ergeben sich schon Konsequenzen für das Grundtempo, das den freudvollen Affekt dieser Kantate darstellen muß. Der Alla-breve-Charakter, der in der Kantate allerdings nicht ausdrücklich vorgezeichnet ist, wird durch die exakte Bezeichnung von ripieno und concertato hervorgehoben und durch die Aufführung musikalisch deutlich. Damit wird auch das „redende Prinzip” erkennbar, das sich aber nicht im einzelnen „musikalischen Wort” verliert, wie es heute in der Welle der Harnoncourt-Nachfolge so oft geschieht, sondern Bach selbst zeigt uns durch das Hinzufügen der Corni da caccia auch den „musikalischen Satz” an. Darüber hinaus gibt es differierende bzw. zusätzliche Hinweise auf Dynamik und Artikulation, die uns hilfreich bei der Erarbeitung sein können.
Beim Adagio mit den beiden Fermaten gehen auch heute die Dirigenten dieser doch eindeutigen Aufforderung zur Improvisation noch aus dem Wege und lassen diesen phrygischen Schluß eines zu improvisierenden Satzes „notengetreu” spielen. Reizvoll ist, daß Andere Lösungen suchen, die von vollständig instrumentierten Kantatensätzen (Yehudi Menuhin) über Cembalo-Improvisation (August Wenzinger) bis zur Violinkadenz (Nikolaus Harnoncourt) reichen. Jede Lösung hat Argumente für sich, mit denen sich Dirigierstudenten auseinandersetzen müssen, um zu einer werktreuen und nicht notentreuen Wiedergabe zu kommen.
Dieses Beispiel soll für ein umfassendes Gebiet der Aufführungspraxis stehen, das mit seiner Problematik nicht etwa um 1750 endet, sondern für Wolfgang Amadeus Mozarts Opern in anderer Weise auch Gültigkeit hat. Die von Mozart selbst verzierten Gesangstimmen beweisen das. Auch die romantische Intuitions- und Erlebnistheorie beweist, daß in dieser Zeit wiederum, wenn auch in anderer Weise, die Werktreue nicht in der absoluten Notentreue bestand. Man vergleiche dazu nur einmal die Walzen, auf denen Max Reger seine eigenen Werke interpretiert, oder Richard Strauss als Dirigent eigener Werke mit ihren eigenen metronomischen Angaben.
Der methodische Weg beim Studium kann nur über das Ausscheiden falscher Aufführungspraktiken führen (z.B. bei Franz Schubert die Tatsache, daß bisher seine Akzente in der Mehrzahl als Diminuendo-Klammern gedeutet wurden, oder das Verwischen von Keil und Punkt bei Ludwig van Beethoven, oder bei Mozart die heute immer noch falsche Ausführung der Mehrzahl der Vorschläge nach einer nur im Ausnahmefall möglichen 1/3-Regel usw.) Dagegen ist das Erschließen von authentischen Quellen für die praktische Arbeit im Unterricht eine vordringliche Aufgabe, denen bisherige Veröffentlichungen nicht genügend entsprechen. Außer in privaten Abschriften sind z.B. Mozarts Gesangkadenzen zu Arien von Johann Christian Bach im Druck nicht zugänglich, ebensowenig die autographen Verzierungen von Händel zu einigen (leider nur wenigen) Arien. So wäre die Reihe mangelnder Materialien fortzusetzen.
Zu den genannten Punkten kann im Hauptfach Dirigieren Hilfestellung geleistet werden, doch wären dazu Fächer wie Stillehre und Aufführungspraxis ergänzend notwendig, die vorläufig nicht oder nur unzureichend eingeführt wurden. Die positiven Erfahrungen der Leipziger Hochschule für Musik sollten eine schnelle Entsprechung an anderen Hochschulen finden.
Bei der Erarbeitung von zeitgenössischer Musik im Unterricht stellen sich eine Vielzahl von Problemen, die man nur an wenigen Beispielen darstellen kann. Hauptfrage dabei ist das Entwickeln der klanglichen Vorstellungskraft der Studierenden. Ein harmonisches Hören ist bei Paul Dessous Lukullus noch möglich, bei Bernd Alois Zimmermanns Soldaten nicht mehr. Eine Erarbeitung von Krzysztof Pendereckis Teufel von London ist am Klavier nicht mehr möglich, wenn man nicht nur Wert auf Abläufe legt, die immer irgendwie darstellbar sind. Voraussetzungen für das Dirigieren neuer Werke ist eine virtuose Handhabung von schlagtechnischen Mitteln. Im Unterricht können Unabhängigkeitsübungen trainiert werden, in denen beide Arme unterschiedliche Taktarten dirigieren. Virtuose Wechsel wie in Sacre von Strawinsky, Bartóks Tanzsuite, Rainer Bredemeyers Oboenkonzert sind trainierbar und sollte zu den täglichen Übungen eines Dirigierstudenten gehören.
Auch der Wechsel von traditionellen Taktarten und aleatorischen Zeichengebungen ist z.B. bei Krzysztof Penderecki oder Georg Katzer lehrbar. All dies bezieht sich aber nur auf die korrekte Regelung der Abläufe. Mit den zur Zeit gegebenen Möglichkeiten der Verträge mit Orchestern, die zum Dirigierunterricht zur Verfügung stehen, ist eine sinnvolle und kontinuierliche Arbeit zum inneren Hören von zeitgenössischen Werken nicht möglich, da schon die spieltechnischen Schwierigkeiten so hoch sind, daß die vorhandene Zeit nicht einmal ausreicht, um die technischen Probleme zu lösen. Die Arbeit müßte mit Arnold Schönberg, Alban Berg und Anton Webern beginnen und dann entsprechend fortgeführt werden. Alternativen zu dieser Situation stellen sich in kammermusikalischer Arbeit, Uraufführungen an den Hochschulen, Hospitationen bei Schallplatte, Rundfunk und Konzerteinstudierungen neuer Werke. Studenten höherer Semester sollten von den großen Orchestern Gelegenheit bekommen, für Konzerte mit neuen Werken Registerproben zu machen. Sehr gute Erfahrungen konnten bei der Einbeziehung von Studenten während der Vorbereitung von Aufführungen neuer Werke, die ihr Hauptfachlehrer leitete und somit unmittelbarer Gegenstand des Unterrichts waren, festgestellt werden.
Lehrbarkeit des Dirigierens und System der heutigen Ausbildung
Die dirigentisch-handwerklichen, also äußerlich sichtbaren Vorgänge des Dirigierens sind Gegenstand zahlreicher Veröffentlichungen. Daß diese in ihren Ergebnissen stark divergieren, wo man eigentlich annehmen müßte, daß heute die Grundzüge einer Dirigiertechnik weitgehend einheitlich sind, liegt in der Natur der Sache: Ein dreidimensionaler Vorgang, der in seinem metrischen Teilaspekt eine Umsetzung von Zeit in Raum ist, läßt sich zweidimensional nicht darstellen, und deswegen müssen alle Darstellungen, die über ein Schema hinausgehen wollen, ungenügend und mißverständlich bleiben. Trotzdem ist es gerade dieser Aspekt des Dirigierens, der im Unterricht lehrbar ist. Grundlage dafür ist aber, daß in der Methodik das Handwerkszeug (Finger, Hand, Handgelenk, Unterarm, Oberarm, Körper, Kopf, Augen) auf seine Wirkungsfähigkeit untersucht wird und sowohl einzeln als auch in sinnvollen Kombinationen trainiert wird. Dazu muß der Lehrer jeweils Etüden entwickeln, die aus entsprechenden Teilen von bekannten Werken zusammengestellt werden, zum Beispiel Etüden von unterschiedlichen Taktarten aus Werken von Charles Ives, accelerando und ritardando aus Béla Bartóks Tanzsuite, unabhängige Bewegungen aus Johann Christian Bachs Doppelchörigen Sinfonien. Die Reihe läßt sich für jedes handwerkliche Problem fortsetzen. Wie beim Instrumentalisten, muß der technische Standard dem musikalisch vollständig erarbeiteten Werk voraus sein, da eine selbständige musikalische Vorstellung, die der Kernpunkt einer interpretatorischen Absicht sein muß, sich bei mangelnder Technik nicht frei und schnell genug entwickeln kann. Schließlich ist auch der oft mühsame Weg zu beachten, die technisch-handwerklichen Probleme im Moment des Dirigierens im Unterbewußtsein zu haben, um den geistigen Prozeß nicht mit mechanischen Problemen von den musikalischen Hauptanliegen ablenken zu lassen.
Die Frage nach der Lehrbarkeit des Dirigierens läßt sich nur exakter beantworten, wenn wir uns dem folgenden Thema zuwenden:
Die Komplexität des Dirigiervorganges und seine Schwachstellen in der Ausbildung
Der Versuch, den Vorgang des Dirigierens in einer Art Netzwerk (siehe Schema in der PDF) zu erfassen, muß seine Grenzen in sich selbst tragen, da ein Dirigieren mit unverrückbaren Schemata nicht möglich ist. Es soll uns dazu dienen, einen Ansatzpunkt für Schlußfolgerungen der Verbesserung der Ausbildung zu schaffen.
Wenn die Rubrik „Erfahrung” sozusagen als Filter dem Dirigiervorgang vorgeschaltet ist, so soll das deutlich machen, daß dieser Beruf in höherem Maße als andere musikalische Berufe ein Erfahrungsberuf ist und neben der handwerklichen Ausbildung jeder Lehrer verpflichtet ist, ein hohes Maß seiner ganz persönlichen Erfahrungen zu vermitteln, die aber eigene Erfahrungen des Studenten nicht ersetzen können. Auch hier liegt also ein Grad der „Unlehrbarkeit” dieses Faches - eben ein zentrales Problem. Alle im linken Kasten genannten Bereiche sind bei jedem Studenten unterschiedlich ausgeprägt und können weitgehend bei Nutzung aller Möglichkeiten gelernt werden, wenn sie als Grundvoraussetzung anerkannt werden. Dabei muß auch erkannt werden, daß Hörgewohnheiten nicht unbedingt ein positiver Aspekt zur Werkvorstellung sein müssen. Das immerwährende In-Frage-Stellen von Gewohnheiten und eben auch der Hörgewohnheiten muß zu einem Kernpunkt der Ausbildung werden. In dieser Konsequenz ist natürlich auch eine praktizistische Unterrichtsmethode nicht hilfreich, die sich ausschließlich auf Vermittlung von Traditionen und erprobter technischer Hilfsmittel beruft. Der längere Ausbildungsweg, doch der zur wirklichen künstlerischen Persönlichkeit führende, kann nur über das ständige Hinterfragen und damit zum Verständnis aller musikalischen Vorgänge führen.
Das Kapitel „Wille des Komponisten” ist natürlich auch hier im Schema bewußt als Überschrift über dem ganzen Vorgang ausgewiesen, doch ist dieses Problem mit der Deutung der Quellen bereits angesprochen worden. Verfolgen wir also das Schema auf der mittleren Ebene weiter nach rechts, münden die Faktoren, die lehrbar sind, in der musikalischen Vorstellung, diese muß mit dirigentisch-handwerklichen Hilfen z.B. für einen zu spät singenden Solisten, für einen zu tief singenden Chor oder für ein zu schwer spielendes Orchester im dirigentischen Handwerk zusammenfließen.
Diese Seite der handwerklichen Hilfen ist aber in der Unterrichtsarbeit am Klavier kaum darstellbar, da es ja immer eine konkrete Situation erfordert, auf die man mit einem bestimmten handwerklichen Mittel reagieren muß. Die Liste der Möglichkeiten ist so unbegrenzt wie die möglichen Pannen und Mängel, die einem Dirigenten begegnen können, und gerade hier muß der normale Unterricht versagen. Hier hilft nur die Arbeit mit Solisten, Chor und Orchester unter Anleitung des Lehrers, der eben primär nicht das korrigierende Wort, sondern die helfende und korrigierende Geste verlangt. Um die nicht voneinander zu trennenden Faktoren von psychologischem Einfühlungsvermögen, dirigentischem Handwerk, persönlicher Ausstrahlung mit der entsprechenden Rückkopplung vom Orchester, für die Erfahrungen notwendig sind, deutlich zu machen, wurden sie als Kasten dargestellt, wo ein Faktor unmittelbar den anderen beeinflußt. Über den Kernpunkt der Erfahrung sprachen wir schon. Die psychologische Einfühlung wie auch die persönliche Ausstrahlung sind Faktoren, wo wiederum der Unterricht am Klavier versagt, weil sie dort und damit auch keine ständige Anforderung bedeuten. Verbale Hinweise des Lehrers können da nur wenig helfen; am konkreten Fall vor dem Chor oder dem Orchester aber sehr. Betrachten wir den eigentlichen Dirigiervorgang, so spaltet sich die Konzentration eines Dirigenten in den momentanen Dirigiervorgang als eine Mischung von rationalem und emotionalem Bewegungsablauf mit ordnender Kraft, die Kontrolle des momentanen musikalischen Vorgangs, das Vorausdenken in der Werkvorstellung und in die Rückkopplung vom bereits musizierten zum noch zu musizierenden Teil. Die Konsequenzen daraus können vielfältiger Art sein, vom größeren Accelerando bis zum stärkeren Diminuendo, vom akzentuierten Schlag bis zur größeren Atemzäsur.
Auch hier werden wir wieder zum Endergebnis kommen, daß das Klavier im Unterricht diesem Anspruch einfach nicht genügen kann. Ein Geiger übt seine Solostimme des Violinkonzerts auch kaum auf dem Klavier. Wir sollten uns die Erfahrungen des Petersburger Konservatoriums als Vorbild nehmen, wo ein professionelles Orchester guter Qualität und Größenordnung ausschließlich für die Hochschularbeit zur Verfügung steht und die Studenten mit ihrem Hauptfachlehrer nach der Vorbereitung am Klavier arbeiten können. Ein besonderes Problem, welches in Petersburg auch durch ein eigenes Studenten-Opernhaus gelöst ist, besteht in der Einführung in die Besonderheiten des Operndirigats. Gerade dort wird weit mehr als im Konzert die Wechselwirkung von Kontrolle des momentanen musikalischen Vorgangs - Vorausdenken - Rückdenken mit Rückkopplung verlangt und trainiert. Schnelle Reaktionen mit den richtigen handwerklichen Mitteln müssen dafür vorhanden sein wie ein großes Maß an Kenntnissen der musikalischen und szenischen Dramaturgie, damit dem heutigen Regietheater wieder Partner erwachsen, die die Bezeichnung „Musiktheater“ nicht nur auf dem letzten Wortteil betonen.
Hier könnte ein neuartiges Kurssystem helfen, wo junge Sänger mit erfahrenen Gesangspädagogen in der szenischen Arbeit mit profilierten Regisseuren arbeiten und gleichzeitig junge Dirigenten in diese Arbeit eingewiesen werken und dabei selbst vom Repetieren bis zum Dirigieren mitarbeiten.
Chorsinfonische Werke sind im gültigen Lehrplan sehr beschränkt vertreten, obwohl gerade hier für viele Dirigenten Probleme in der Synthese zwischen dem sachlichen, unverwischten Grundschlag für das Orchester und den mehr helfenden, rhythmisch dem Ablauf folgenden Bewegungen für den Chor bestehen. Dazu kommen alle dirigiertechnischen Hilfen für das Atmen und Absprechen von Worten, Intonationshilfen und klangformenden Bewegungen. Hier versagt außer bei mehr theoretischen Erwägungen die Arbeit am Klavier nun vollständig. Hier müssen unkonventionelle Wege für eine Arbeit mit Chören gefunden werden.
Die vorliegenden Dirigierlehrbücher nehmen nur sehr begrenzt von wesentlichen Faktoren der Dirigentenarbeit Kenntnis: Probenmethodik und -systematik, Orchesterschulung, Probenpsychologie und Psychologie des Orchesters und des Chores. Wenn niemand das Wagnis eingeht, sich dazu schriftlich zu äußern, könnten aber die Seminare für alle Dirigierstudenten diese Probleme abhandeln, die ein wesentlichen Bestandteil von Praktika mit dem Hauptfachlehrer sein müssen.