Hartmut Haenchen
Der 1943 in Dresden geborene Hartmut Haenchen begann seine musikalische Laufbahn im berühmten Dresdner Kreuzchor. Er studierte Gesang, Chor- und Orchesterleitung und wurde zunächst Kapellmeister in Chemnitz, später war er Chefdirigent der Dresdner Philharmoniker und Professor in Dresden. Seit zwanzig Jahren leitet er das Kammerorchester „Carl Philipp Emanuel Bach“ in Berlin. Zur Zeit lebt Haenchen in Amsterdam, wo er das Niederländische Kammerorchester und die Niederländische Philharmonie leitet. Erfolge feiert er auch als Operndirigent, zum Beispiel in Amsterdam.
Hartmut Haenchen packt in der Staatsoper Unter den Linden in Berlin aus seiner Aktentasche einen Taktstock aus, mit dem er in Amsterdam einen ganz besonderen Effekt erzeugt hat. Im Griff des Taktstocks ist eine Batterie versteckt. Wenn der Dirigent den Stock anfasst, schließt sich ein Stromkreis und die Spitze des Stabes beginnt zu leuchten. Neben diesem Unikum hat Haenchen aber auch einen „normalen“ Taktstock dabei.
Argumente
Kleine Orchesterbesetzungen wie mein Kammerorchester „Carl Philipp Emanuel Bach“ dirigiere ich ohne Taktstock. Auch Chormusik und Chorsinfonik dirigiere ich grundsätzlich nur mit den Händen. Der Taktstock begrenzt die Ausdrucksfähigkeit der Hand, das ist ganz klar. Jeder Klangkörper braucht einen eigenen Dirigierstil: Ein Chor braucht weniger technische Anweisungen. Das Metrum ist für einen Chor nicht so entscheidend. Viel wichtiger sind Absprachen, die Textgestaltung und eine andere Form der Klanggestaltung. Ein Orchester hat einen anderen Ausgangspunkt. Die Musiker haben viele Pausen und brauchen auch technische Hilfen. Man kann 220 Takte Pause nicht ohne Probleme mitzählen. Wenn der Dirigent nach so einer langen Pause einen Einsatz gibt, ist das eine technische Hilfe.
Der Taktstock kommt – ein bisschen salopp gesprochen – der Faulheit des Dirigenten entgegen. Er ist eine Verlängerung des Armes. Sobald ich einen Taktstock benutze, kann ich meinen körperlichen Einsatz, vor allem den Einsatz meiner Arme, deutlich reduzieren. Das ist für Werke, die fünf Stunden oder länger dauern, auch eine Frage der Ökonomie. Der Taktstock ist ein physisches Argument.
Zeremonienmeister
Ich denke, die Länge eines Taktstocks sollte die Länge des Unterarms nicht überschreiten. Das sind bei mir 40 Zentimeter. Deshalb ist mein längster Stock nicht länger als 40 Zentimeter. Für kleinere Besetzungen nehme ich auch kleinere Stöcke. Ich finde es unproportioniert, wenn ich eine Kammermusikbesetzung für einen frühen Beethoven oder einen Mozart mit einem 40-Zentimeter-Stock dirigiere. Das steht nicht im Verhältnis zur Entfernung.
Auf große Entfernungen ist ein Stock besser sichtbar, obwohl er so dünn ist. Die Musiker reagieren ausgesprochen gut auf das kleine Stöckchen! Deswegen richte ich die Größe meines Taktstocks nach der Größe des Orchesters. Es gibt Kollegen, die längere Taktstöcke benutzen. Manche Dirigenten haben enorme „Geräte“ gehabt. Lully hat einen Taktstock benutzt, der so groß war, dass er ihn wie ein Zeremonienmeister auf den Fußboden gestampft hat. Historisch gesehen ist der Taktstock immer kleiner geworden. Mein kürzester Taktstock ist etwa 30 Zentimeter lang.
Schwingende Stöcke
Im Laufe meines Lebens habe ich verschiedene Stöcke ausprobiert. Ich komme aus der DDR, wo die Auswahl nicht sehr groß war. Es gab ein paar Modelle, die alle den Nachteil hatten, dass das Holz sich bewegte. Der Taktstock darf aber nicht schwingen. Das taten alle DDR-Taktstöcke. Jetzt lasse ich mir die Taktstöcke anfertigen und bin damit sehr glücklich. Ich habe in der Niederländischen Philharmonie in Amsterdam einen Oboisten, der mir meine Taktstöcke baut. Er heißt Rob Bouwmeester. Von ihm ist auch dieser, den ich gerade benutze.
Er kam auf mich zu und sagte: „Ich probiere immer solche Dinge. Ich habe meine Drehbank zu Hause. Für Kollegen habe ich schon mal Dirigierstöcke gebaut. Ich würde gerne auch einen für Sie entwickeln.“ Wir haben viel experimentiert. Er hat sicher erst mal zehn verschiedene Stöcke gemacht, bevor ich gesagt habe: „Das ist er.“ Das hing mit dem Gewicht zusammen. Er musste erst das richtige Holz zu finden. Der Griff ist aus Grenadille-Holz, das ist ein Hartholz aus Mosambik. Daraus werden auch Oboen und Flöten gemacht. Es ist also ein Instrumenten-Holz, weil es auch den Schweiß nicht so aufnimmt. Der Stock ist aus Ramin.
Seit ich diese Stöcke habe, gehen mir merkwürdigerweise keine mehr kaputt. Das kann ich nicht genau erklären. Dieser Stock hier sieht etwas abgearbeitet aus: Er hat aber auch mehr als fünfzehn „Ringe“ hinter sich und lebt immer noch. Das finde ich ganz gut!
Eine Zeit lang habe ich mit Glasfiber-Stöcken dirigiert. Die waren nie richtig balanciert. Wenn man die „Meistersinger“ mit einem Glasfiber-Stock dirigiert, merkt man das in der Schulter. Man kann sich das kaum vorstellen, weil es sich nur um ein paar Gramm handelt. Aber fünf, sechs Stunden immer dieses Gewicht, das nach vorne zieht: Da kommt es zu Verspannungen.
Früher bin ich in einen Laden gegangen und habe Taktstöcke gekauft. Zu Hause habe ich sie dann mit Feile und Sandpapier irgendwie auf ein Maß bekommen, das mir angenehm war.
Gut geprobt
Technisch gesehen gibt es zwei Möglichkeiten, einen Taktstock zu benutzen: Entweder er verlängert den Arm, oder er ist selbstständig. Selbstständig ist er, wenn der Arm in Ruhestellung geht und ich nur aus dem Handgelenk dirigiere. Es gibt eine Menge Literatur, bei der es völlig ausreicht, wenn man sich so zurücknimmt und wirklich nur noch die notwendigsten Informationen gibt. Das kann auch im Fortissimo-Bereich sein, weil die Gestaltungskraft des Orchesters durch die Probenphase so gereift ist, dass er nur noch Erinnerungszeichen geben muss, aber keine „Forderungszeichen“.
Wunde
Ich habe schon einmal blutend einen Akt zu Ende gebracht. Der Taktstock war zersplittert, und mit dem abgebrochenen Stück habe ich mich an der linken Hand verletzt. Ich glaube, es war irgendwo in der Krönungsszene von „Boris Godunow“. Ich bin etwas außer Kontrolle geraten und habe den Stock zerschlagen. Ich war wahrscheinlich wegen des abgebrochenen Stocks ein wenig nervös. Das ist aber die Ausnahme.
Schüler, Lehrer
Meine Dirigentenkarriere hat ohne Taktstock angefangen, weil ich zunächst als Chordirigent und Kirchenmusiker gearbeitet habe. Da habe ich keinen Stock verwendet. Das erste Mal habe ich im offiziellen Dirigierunterricht einen Stock in die Hand genommen. Ich habe an der Hochschule in Dresden bei Professor Neuhaus und bei Professor Förster studiert. Der Taktstock ist im Unterricht Thema gewesen, weil er in die gesamten Bewegungsabläufe eingearbeitet werden musste. Ich habe auch lange Zeit eine Professur gehabt. Die Funktionalität des Taktstockes hat da selbstverständlich eine große Rolle gespielt, und zwar das Für und Wider.
Licht an der Spitze
Dieser Taktstock ist für unseren „Ring“ in Amsterdam entstanden. Ich hatte die Idee, den Anfang des Rheingold, das gesamte Es-Dur, im völligen Dunkel stattfinden zu lassen. Die Musiker spielen auswendig, aber sie müssen wissen, wann und in welchem Tempo es los geht. Ich habe die Requisitenabteilung in der Oper gebeten, nach meinem Taktstockmodell einen neuen Taktstock mit einem kleinen Licht in der Spitze zu bauen. Er sollte meinem Taktstock ähneln, damit ich mich nicht zu sehr umstellen muss. Eine weitere Schwierigkeit war, dass ich keine Zeit hatte, ihn an- und während des Dirigierens wieder auszuschalten. Wenn ich den neuen Taktstock am Griff anfasse, geht das Licht an. Sobald ich ihn weglege, geht es aus. Im Grunde stelle ich mit meiner Hand einen Kontakt her, und die Diode leuchtet. Im Griff ist eine kleine Batterie. Meines Wissens ist das der erste leuchtende Taktstock.
Ich musste anders, rein mechanisch schlagen, denn die Musiker sehen keine Körpersprache. Das muss gut probiert sein, für hundert Takte kann man das ohne Probleme vorbereiten. Falsche Töne kann man am Anfang vom „Rheingold“ nicht spielen, weil alles Es-Dur ist. Das hat sehr gut funktioniert.
Dieser Trick hat den Effekt erzeugt, den ich mir vorgestellt habe: in absoluter Dunkelheit erklingt dieses tiefe „Es“. Langsam entwickelt sich die Musik, und etwa in Takt 120 haben wir dann die ersten Lichter. Man glaubt es kaum, aber dieses Lämpchen hat man im ganzen Saal gesehen.
Die Idee hat dem Regisseur Pierre Audi so gut gefallen, dass wir auch andere Aktanfänge im kompletten Dunkel gespielt haben als Prinzip für Musik, die aus dem Nichts kommt, zum Beispiel die Anfänge der ersten beiden Akte von „Siegfried“.
Der klare Kopf
Die Zusammenarbeit zwischen Orchester und Dirigent hat sich verändert. Die „Toscanini-Richtung“ sollte man heute nicht mehr durchsetzen, doch das Dirigieren bleibt autoritär. Es gibt keine Demokratie zwischen Dirigent und Orchester, aber es gibt eine andere Form des Umgangs. In zwei Generationen hat sich der Umgang zu einem Miteinander entwickelt. Der Abstand zwischen Dirigent und Orchester ist kleiner und die Zusammenarbeit kollegialer geworden. Es gibt aber auch heute noch Kollegen, die brauchen, um gut zu sein, den Widerstand. Sie müssen durch den Widerstand durchgehen. Da werden sie richtig gut. Ich brache das Miteinander, das Aufeinanderzugehen.
Vielleicht hat das etwas damit zu tun, dass ich vom Singen komme und schon als Kind vom gemeinsamen Musizieren fasziniert war. Deshalb arbeite ich seit beinahe zwanzig Jahren außer mit großen Sinfonie- und Opernorchestern mit Kammerorchestern. Dieses Spannungsfeld ist mir wichtig. Es macht den Kopf immer wieder klar, wenn man nicht ausschließlich in der Romantik oder in der Moderne zu Hause ist, sondern wenn man sich mit der ganzen Spannweite der Stile beschäftigt.
Ich war mir mit vierzehn im Klaren, dass ich Dirigent werden wollte. Aber ich habe nie einfach eine Partitur aufgeschlagen und dann ein Stück dirigiert. Ich habe viel wissenschaftlich gearbeitet und eine ganze Reihe Veröffentlichungen gemacht. Zum „Ring“ ist ein Buch erschienen. Jetzt bin ich gerade dabei, vierzehn kleine Bücher für den Amsterdamer Mahler-Zyklus zu schreiben. Aufgrund dieser Studien komme ich in meinen Interpretationen manchmal zu sehr kontroversen Ergebnissen. Eigentlich hat meine Karriere mit Alter Musik angefangen, indem ich Handschriften aus den Bibliotheken abgeschrieben und für Aufführungen eingerichtet habe. Wenn man vor den Originalen sitzt, lern man unheimlich viel.
Roelcke, Eckhard: Der Taktstock. Dirigenten erzählen von ihrem Instrument. Wien: Paul Zsolnay Verlag 2000, S. 111-115.