Den Titel «Gewandhauskapellmeister» gibt es immer noch. In den bisher stürmischsten Zeiten des Orchesters trug ihn Kurt Masur, zu Recht. Kapellmeister – das ist ein Ehrentitel, die Übersetzung des italienischen «Maestro di cappella». Es gibt ihn also nicht, den von den Medien immer wieder herbei geredeten Qualitätsunterschied zwischen «Maestro» und «Kapellmeister». Und Kurt Masur war viel mehr als das. Wir haben an ihm auch den Hausvater eines Konzerthauses verloren, das ohne ihn nie gebaut worden wäre: das neue Leipziger Gewandhaus. Und einen der entscheidenden Väter der Friedlichkeit der Revolution von 1989.
Wir begegneten uns vielfältig: In meiner Studienzeit pilgerten wir zur Komischen Oper nach Berlin um die Produktionen Walter Felsensteins zu sehen und Kurt Masur am Pult zu erleben. Produktionen wie «Otello», den Masur dirigierte. Es waren unvergessliche Abende. Er rettete mich vor meinem ersten politischen Verfahren, als ich Händels «Messias» in einer in der DDR nicht genehmigten Übersetzung aufführen und die Stadt Leipzig die Aufführung verbieten wollte. Aus meiner Stasi-Akte habe ich erst spät erfahren, dass er auch intervenierte, als es um die Besetzung der Dirigentenstelle an der Dresdner Philharmonie ging und die Parteileitung des Orchesters meine Anstellung verhindern wollte. Er war es, der das Engagement schließlich durchsetzte.
Meine ersten, von ihm ermöglichten Konzerte mit dem Gewandhausorchester in Leipzig (er gab mir ausgerechnet Mendelssohn!) wurden zu schönen Erfolgen. Und als ob ich mich in seinen Fußstapfen entwickeln sollte, wurde ich nach der Arbeit mit «seiner» Dresdner Philharmonie einer seiner Nachfolger als Chefdirigent der Mecklenburgischen Staatskapelle in Schwerin. Manchmal kehrte er selbst an die alte Wirkungsstätte zurück, um den jungen «Kapellmeister» zu unterstützen. Als ich schließlich einen Vertrag als Generalmusikdirektor der Komischen Oper Berlin angeboten bekam – damals hieß der Intendant Joachim Herz –, vertraute Kurt Masur mir an, dass er mit Walter Felsenstein heftigen Streit gehabt hatte. Die Auseinandersetzungen hatten sich wohl vor allem an der Frage entzündet, ob der Dirigent den Charakter von Rezitativen bestimmt oder der Regisseur. Felsenstein entschied stets zu Gunsten des Regisseurs. Das führte nicht nur zum Zerwürfnis und Abschied von der Komischen Oper, es hat Masur vielleicht auch insgesamt an der Oper verzweifeln lassen. Da ich mit Joachim Herz zunächst eine neue «Zauberflöte» geplant hatte, spielte diese Frage für mich keine entscheidende Rolle – und ich unterschrieb. Nicht ahnend, dass das Zentralkomitee der SED und das Ministerium für Kultur unterdessen beschlossen hatten, dass ich «für diese Position politisch nicht reif sei».
Für junge Dirigenten war Kurt Masur bis in die letzten Jahre in unersetzlich Helfender und dies natürlich auch in künstlerischer Hinsicht: Von dem einzigen Meisterkurs, den ich bei ihm in Jena besuchte, ist mir vor allem ein Satz in Erinnerung geblieben: «Vertraue dem Orchester». Bis zuletzt kämpfte er gegen alles, was die Musik entstellt, wenn er hörte, dass es «zu schnell», «zu langsam», «zu leise», «zu laut» uw. zuging. Und er verstand es eindrucksvoll, das jungen Musikern mitzuteilen. «Musikalischen Moden» hat er sich immer verweigert.
Viele Jahre nach der Wende trafen wir uns wieder. Und wieder stand er mir zur Seite, als die Dresdner Musikfestspiele, denen ich als Intendant vorstand, aufgelöst werden sollten. Nach einer Aufführung von Mahlers 3. Sinfonie hatte der Dresdner Oberbürgermeister zu einem Empfang geladen. Jener Mann, der damals laut über die Abwicklung des Festivals nachdachte. Die Rede, die Kurt Masur aus diesem Anlass hielt, wird niemand vergessen, der dabei war. Sie ließ an Eindeutigkeit nichts zu wünschen übrig.
Mir bleibt nur zu sagen: Danke für alles Kurt Masur.
Dieser Gedenktext wurde für das Magazin OPERNWELT Haft 2, 2016 geschrieben. Redaktion: Albrecht Thiemann