Texte

WOHIN MIT DER SCÖNHEIT

Drei Textbausteine für das Thema der Sächsischen Akademie der Künste

Wohin mit der Schönheit: Prof. Dr. h.c. Hartmut Haenchen
3 Vorschläge aus eigenen Texten:

Der Doktor-Titel steht, seit er 1219 in Bologna erstmals vergeben wurde, in einer sehr alten humanistischen Tradition. Aber gerade um diese humanistische Tradition mache ich mir Sorgen. Am Beispiel Beethovens versuche ich dies zu formulieren: Beethoven1 glaubte an die moralische Kraft der Kunst und die weltweite Wirkung der Grundsätze der Französischen Revolution. Er war überzeugt, dass die Regierenden die Signale der Kunst verstehen. So zeigt zum Beispiel der Eingang des Anfangsmotivs der Fünften Sinfonie als „V“ wie victory in die Morsetechnik 1838, sozusagen als technische Übersetzung der Musik, wie tief Kunst in die Gesellschaft drang. Dies wiederum setzt eine humanistische Allgemeinbildung voraus, die heute verloren geht oder schon zum großen Teil verloren gegangen ist. Beethoven glaubte an die humanistische Bildung der Regierenden seiner Zeit und an die von Schiller postulierte Wirkung der Kunst. Auch die adeligen Herrscher seiner Zeit hatten alle eine musikalische und künstlerische Bildung erfahren. Goethe, der die Essenz der humanistischen Bildung bis zum 19. Jahrhundert in sich vereinte, tat dies mit der Hilfe und Freundschaft des Herzogs von Weimar. Heute ist ein Regierender mit künstlerischer oder gar musikalischer Bildung die Ausnahme. Helmut Schmidt war
vielleicht der letzte deutsche Regierungschef mit solchen Qualitäten. Regierende sind heute im Allgemeinen mit künstlerischen Mitteln nicht mehr zu erreichen und mit Ausnahme von Diktaturen nicht einmal mehr zu provozieren. Ich denke, wir sind uns einig Humanismus heut so zu definieren: Toleranz, Gewaltfreiheit, Gewissensfreiheit und Würde des Menschen sind die Grundlagen für die Entfaltung der schöpferischen Kräfte der Menschen, die zu einer Höherentwicklung der Menschheit führen müssen, damit diese sich nicht selbst vernichtet. Eine humanistische Bildung muss also auf diesen Grundsätzen basieren, die für Europa ihren Ursprung in der griechischen Antike und in christlichen Menschheitsvorstellungen haben und auf der Förderung schöpferischer Kräfte, besonders der Künste, beruhen.
In unserer modernen europäischen Gesellschaft ist Kunst zum Entertainment verkommen. In Deutschland nennt man das die „Spaßgesellschaft“. Da haben philosophische Gedanken wenig Platz, der „Spaß“ ist eine Vernebelung der Werte. In den Medien nehmen Künste inzwischen einen erschreckend geringen Platz ein. Die offiziellen Statistiken zeigen einen Rückgang von etwa 50 Prozent sowohl im Fernsehen als auch in den Zeitungen in den letzten 20 Jahren. Die geistige Leidenschaft, Bildung zu vermitteln, hat in den letzten Jahren dramatisch nachgelassen. Fernsehen und Radio bedienen die potenzielle Bildungswilligkeit nicht bedachtsam und respektvoll genug. Das Internet als mögliche Alternative ist in seiner Struktur eben nicht mit den „alten“ Medien Buch, Zeitung oder Radio und Fernsehen zu vergleichen. Die Gefahren der „Digitalen Demenz“ werden heute schon aufgezeigt. Feuilletons greifen zu marktschreierischen Mitteln, wenn sie überhaupt noch über Kunst berichten. Kein noch so törichtes Kunstwerk kann aber derart minderwertig sein, dass man darum den Menschen, der es geschaffen hat, tief in der Seele kränken müsste. Genau dies ist aber der heutige Stil. Manchmal wird nicht einmal das Programmheft richtig abgeschrieben.

Oder:

Schließlich hat die Kommerzialisierung unseres Lebens auch ihren Anteil an der Verdrängung humanistischer Werke. Wir sind dabei, unser Leben mit immer mehr unwesentlichen käuflichen Dingen zu umgeben. Wir sollten uns stattdessen auf unsere Kultur besinnen. Wir leben in der Kultur des kommerziellen Starrummels, nicht in der Kultur der Inhalte. Auf den Plakaten stehen kaum noch die Werke, die gespielt werden. Man geht zu Herrn Soundso und Frau Soundso, weil man gelesen hat, dass diese etwas Besonderes sind. Das gipfelt in einem Beispiel, welches ich als Intendant der Dresdner Musikfestspiele erlebt habe: Eine Dame hatte sich eine der wenigen im Freiverkauf noch verfügbaren Eintrittskarten für ein Konzert mit Anne- Sophie Mutter lange im Vorhinein gekauft. Einen Tag vor dem Konzert rief sie an und fragte: „Was singt sie eigentlich?“. Eine Umfrage an der Harvard-Universität zu Beethoven ergab, dass (aufgrund eines Filmes) unter den Studenten nur ein Hund dieses Namens bekannt ist.
Der Mensch ist verliebt in die Unsterblichkeit und deshalb allzu empfänglich für Surrogate wie „Tausendjähriges Reich” oder Kommunismus. Die Ideale des Kommunismus, die in einigen Grundgedanken durchaus dem Urchristentum verwandt sind, haben nicht mit den Schwächen der Menschen gerechnet. Das kommunistische System ist an eben dieser Fehleinschätzung des Menschen im Allgemeinen gescheitert. Alle Systeme aber haben sich unter unterschiedlichen Vorzeichen (bis hin zu Text-Umdichtungen) der Werke Beethovens bedient, wenn auch mit ständig abnehmender Tendenz. Ihren Platz nehmen flachere Surrogate ein, die keine Besserung der Menschheit versprechen, da mit ihnen die irrationale Kraft der Musik inklusive der wissenschaftlich bewiesenen positiven Effekte und Leistungssteigerung verloren geht. Heute ersetzen wir all diese Begriffe mit dem „Ideal“ des Wachstums. Für mich bleibt es erstaunlich, dass nur einige wenige Fachleute sehen, dass es ein endloses Wachstum nicht geben kann. Schon gar nicht, wenn wir unsere Kultur verlieren. Die Wachstumsgläubigkeit entspringt durchaus der Zeit der Aufklärung und einem naiven humanistischen Fortschrittsglauben. Wir sollten aber heute durch einen zumindest theoretisch weiter entwickelten Humanismus größere Einsichten haben. Die öffentlich-rechtlichen Medien gehorchen immer mehr privatrechtlichen Grundsätzen, die sich nach
Einschaltquoten richten. Eigentlich haben sie aber einen Bildungsauftrag, der erst in einem langen Prozess zu hohen Einschaltquoten führen kann. Es gerät heute in unserer „Spaßgesellschaft“ in Vergessenheit, dass Arbeit eine moralische Verpflichtung ist.
Alle europäischen Sprachen sind voll von griechischen und lateinischen Worten, aber wir haben die Basis verloren, diese verbindenden Elemente zu erkennen. China ist dabei, an Europa und Amerika demographisch, industriell und geopolitisch vorbeizuziehen. Dort werden mehr Schüler in Latein und Griechisch unterrichtet als in ganz Europa. Die Chinesen tun dies, um unsere Kultur verstehen zu lernen. Dabei wird auch die europäische klassische Musik, wie schon seit hundert Jahren in Japan, eine immer größere Rolle spielen. In den Slums von Kinshasa zündet Beethovens „Götterfunken“ in einer ganz anderen Weise. Damit dürfte auch der Beweis der gesellschaftsbindenden und -fördernden Wirkung der Musik und des Musizierens nach den Erfahrungen des Simón Bolívar Jugendorchesters ein weiteres Mal erbracht sein. Nur vor allem in Mitteleuropa vergessen wir das immer mehr, weil wir im Wesentlichen den Luxus im Auge haben. In Kinshasa muss man schon mal eine gerissene Geigensaite durch einen Fahrradbremszug ersetzen, nur um die Idee mit ihrer Wirkung nicht zu verraten. So kann man zumindest feststellen, dass die rückläufigen Aufführungszahlen Beethoven‘scher Werke in Europa durch die Globalisierung teilweise kompensiert werden.

Oder:

Natürlich haben die sozialen Fragen die Bedeutung eines Kreuzweges für die
Zukunft der Menschheit. Wenn der Sozialismus – wie wir ihn gesehen haben oder
wie ich ihn selbst erlebt habe - die bürgerliche Kultur der ohnehin abnehmenden
humanistischen Bildung zensiert und zerstückelt und der Kapitalismus teilweise das
Gleiche tut, muss es zum Desaster kommen. Heute wird fast nur noch über
berufsqualifizierende Ausbildung gesprochen. Bildung im umfassenden,
humanistischen Sinne steht kaum zur Debatte, dabei wissen die Fachleute schon
lange, dass auch musisch gebildete Menschen beweglicher und kreativer im Kopf
sind. Wer ein Instrument spielt, der beherrscht auch die Koordination zwischen Auge
und Hand besser. Denken und Tun sind weit besser entwickelt als bei denen, die
kein Instrument spielen oder zumindest singen. Der Maler Oskar Schlemmer meinte:
„Kunst dient! Dient in einem letzten höchsten Sinn.“ Genau das werden wir in der
Reizüberflutung unserer heutigen Welt brauchen. Wir Menschen brauchen Bildwerke, Musik, Literatur, Architektur, die unsere eigenen Empfindungen, Hoffnungen und Sehnsüchte vertiefen, die uns helfen, zu Besonderheit und dem Bewusstsein unserer selbst zu finden.
Wir sind uns in Mitteleuropa einig darüber, Diktaturen zu bekämpfen. Aber warum sind Diktaturen manchmal über zu lange Zeit erfolgreich? Weil alle unter anderem ein umfängliches und meist kostenfreies Jugendprogramm haben, welches künstlerische Betätigung fördert. Die Demokratien sollten ihre Jugendprogramme ausbauen und nicht abbauen. Die Kosten, die das erfordert, werden schon eine Generation später bei der Sozialhilfe und bei der Bekämpfung der Kriminalität doppelt eingespart werden können. Es gibt keine noch so primitive Menschengemeinschaft ohne Musik. Mathematik, Musik (früher ein Teil der Mathematik) und spekulatives Denken sind im materiellen Sinne - scheinbar - nutzlos. Aber die inzwischen wissenschaftliche bewiesene Wirkung der klassischen Musik erbringt am Ende auch materiell greifbare Ergebnisse. Beste Beispiele sind in den skandinavischen Ländern zu sehen, wo die Schulbildung auf höherem Niveau steht, als im Rest Europas. Hier entstehen in diesem Kontext nicht nur wunderbare neue Konzertsäle, Opernhäuser und Schauspielhäuser. Hier wird die Kulturförderung nicht so drastisch reduziert und selbst auf frühkindliche musikalische Einflüsse gesetzt. Die oben genannte Einsparung bei sozialen Kosten ist hier bereits nachzurechnen. Allerdings dürften diese materiellen Ergebnisse nicht im Zentrum der Kunstdiskussion stehen, denn Kunst hat nicht die primäre Aufgabe, „rentabel“ zu sein und muss sich nicht über die Wirtschaftlichkeit definieren. Die Verantwortungsträger verlangen aber immer wieder diese Diskussion. Leider gibt es trotz der wirtschaftlichen Erkenntnisse über die Wirkung von Kultur und Kunst keine entsprechenden politischen Entscheidungen. Im Gegenteil: Trotz „Wachstum“ wird im Bereich der Kultur überall und zuerst gekürzt. Dabei wäre das Geld durchaus verfügbar, wenn nicht die Gewinne privatisiert würden und die Verluste sozialisiert. Alles, was nicht unmittelbar in Geldwert auszudrücken ist, wird „weggespart“, denn Politik denkt nur in Wahlperioden. Kunst und Kultur aber müssen in Menschheitsdimensionen schaffen und denken.
Den Politikern, die Kürzungen bei der Kultur zu verantworten haben, kann man nur zurufen: Humanistische Bildung ist ein Bürgerrecht. Ihre Verweigerung ist inhuman und im höchsten Maße wirtschaftsschädigend, denn die Bildungsverlierer von heute sind die wirtschaftlich Abhängigen von morgen.


1 In dem Buch von Hartmut Haenchen „Werktreue und Interpretation“, Band 2 Seite 171-184, Pfau-Verlag Saarbrücken, ISBN 978-3-89727-500-3 ist der ausführliche Beitrag unter dem Titel „Beethoven oder Superman?!“ zu finden.

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