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Bach, Wilhelm Friedemann: Das Orchesterwerk

Beitrag zum Booklet der Gesamteinspielung von W.F. Bachs Orchesterwerken und zu Fragen der Rekonstruktion

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Wilhelm Friedemann Bach: Zur Gesamtausgabe des Orchesterwerkes
Booklet-Text für die CD-Einspielung Berlin Classics 1098-2, aufgenommen 1993

Wilhelm Friedemann Bach starb 1784 verarmt in Berlin, wo er die letzten zehn Jahre seines Lebens verbracht hatte. Dabei genoss er zeitweise die Gunst der Prinzessin Anna Amalie, die Orgelmusik liebte und auch selbst Orgel spielte. Zelter war in seiner Jugend sehr von ihm beeindruckt. In den Berlinischen Nachrichten konnte man 1774 über ein Konzert von ihm lesen: „Alles was die Empfindung berauscht, Neuheit der Gedanken, frappante Ausweichungen, dissonierende Sätze...". Auch heute ist seine Musik kaum besser zu beschreiben.

Als einer der ersten Komponisten hatte er versucht, freischaffend zu leben und
brachte sich in seiner Zeit ins gesellschaftliche Abseits; auch war er ein Komponist,
der seiner Zeit mit seinen kühnen Gedanken vorauseilte und dadurch unverstanden
blieb. Bis zum heutigen Tag tauchen seine Werke kaum in Konzerten auf.
Eine der Ursachen ist, dass ein großer Teil seiner Werke nie verlegt wurde.
Heute besteht zwar durchaus Interesse an seinem Werk, jedoch ist ein großer Teil
seiner Werke vernichtet oder verschollen. Martin Falck hat 1913 in seinem
thematischen Verzeichnis der Werke Wilhelm Friedemann Bachs neun Sinfonien
angeführt, davon ist allerdings eine durch fremde Hand bearbeitet. Fünf der nicht
gedruckten Sinfonien lagen bis zum 2. Weltkrieg in der Staatsbibliothek Berlin. Ihr
Verbleiben ist ungeklärt. Wir können nur hoffen, dass sie eines Tages wieder
auftauchen, wie es mit anderen verloren geglaubten Manuskripten auch geschehen
ist.

Die Sinfonia d-Moll (Falck 65), eine der drei Sinfonien, die heute noch zugänglich sind, ist wahrscheinlich von Wilhelm Friedemann Bach später als Vorspiel für eine Friedrich II. gewidmete Kantate benutzt worden. Umgekehrt hat er wahrscheinlich die dreisätzige Sinfonia D-Dur (Falck 64) aus der Kantate „Dies ist der Tag" (Falk 85) erst später als eigenständige Sinfonie herausgelöst. Das veranlasste uns nachzuforschen, welche Kantaten heute noch in Manuskripten vorhanden sind. Dabei konnten wir feststellen, dass die Staatsbibliothek zu Berlin diese Manuskripte bewahrt und dass sich eine Abschrift der Sinfonia F-Dur in Wien befindet. Somit hatten wir die Möglichkeit, drei Sinfonien aus den Manuskripten herauszuschreiben. Diese Aufgabe erwies sich als außerordentlich kompliziert. Der erhaltene autographe Stimmensatz zur Pfingstkantate „Ertönet, ihr seligen Völker" (Falck 88) ist teilweise, wahrscheinlich durch Feuchtigkeitseinflüsse, bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Die solistisch geführten Oboenstimmen fehlen vollständig. Bis zum 2. Weltkrieg existierte noch die autographe Partitur in der Bibliothek der Singakademie Berlin. Auch sie ist heute verschollen. Glücklicherweise bewahrt die Musiksammlung der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien eine Partiturabschrift auf, die auch die Oboenstimmen enthält. Da Wilhelm Friedemann Bach die gleichen musikalischen Strukturen in dem unvollendeten Cembalokonzert Es-Dur (Falck 42) verwendet, war eine weitgehend exakte Rekonstruktion dieses ungewöhnlichen Sinfoniesatzes möglich. Er weist durchaus eine strukturelle Verwandtschaft mit der sogenannten „Dissonanzen"-Sinfonie (Falck 67) auf. Auch hier entsteht durch harmonische Verschiebung auf kleinstem Raum, durch eine Kontrapunktik, die engführende Einsätze im Abstand eines Viertels liebt und durch Überlappung ein kühnes Klangbild schafft, welches in seiner Zeit - und auch noch einhundert Jahre später - seinesgleichen sucht. Nach dem Wasserzeichen des verwendeten Papiers zu urteilen, ist die Sinfonie wahrscheinlich zwischen 1755 und 1758 in Halle entstanden.

Von der Partitur der Sinfonie G-Dur zur Weihnachtskantate „O Wunder" (Falck 92) existiert nur noch eine relativ gut leserliche Abschrift in der Staatsbibliothek zu Berlin. Musikalisch bewegt sich diese Sinfonie auf einem weit weniger dissonanten Boden. Hier kann man eher eine Beziehung zu Carl Philipp Emanuel Bachs frühen Berliner Sinfonien feststellen. Jedoch ist die durchführende Verarbeitung harmonisch wieder sehr kleingliedrig konstruiert. Eine Datierung ist heute nicht mehr möglich. Nach aller Wahrscheinlichkeit ist sie aber auch in Halle (also zwischen 1746 und 1764) geschrieben worden.

Die Sinfonia D-Dur (Falck 91), die als Vorspiel zur Himmelfahrtskantate
„Wo geht die Lebensreise hin" dient, kann man fast als einsätziges Konzert für zwei Trompeten, zwei Oboen und Streicher mit Basso continuo bezeichnen. Auch sie ist dem Wasserzeichen nach zwischen 1755 und 1758 entstanden.
In der autographen Partitur aus der Staatsbibliothek zu Berlin wird deutlich, dass
Wilhelm Friedemann Bach außerordentlich Papier sparen musste, so bringt er in
kleinster Schrift 48 Takte auf einer Seite unter. Auch hier hat die Zeit Schäden am
Material verursacht. Besonders problematisch war hier die Rekonstruktion von
eingefügten Takten (siehe Abb. in der pdf), für die weder die Transposition noch die Besetzung angegeben ist. Stilkritischen Untersuchungen folgend, konnte eine Ergänzung gewagt werden.

Die Sinfonien D-Dur (Falck 64), F-Dur (Falck 67) und d-Moll (Falck 65) liegen in neueren Drucken vor. Die musikalische Sprache dieser Sinfonien unterscheidet sich grundsätzlich voneinander und selbst in den einzelnen Werken ist der Duktus überraschend uneinheitlich. Es ist die Zeit der kühnen Gedankensprünge und Gefühlswechsel. Dies war auch der Ausgangspunkt für die Überlegung, als Autor der Suite g-Moll (BWV 1070) Wilhelm Friedemann Bach anzunehmen. Wurde sie früher als 5. Suite dem Vater zugeschrieben (und auch heute noch als dessen Werk auf Einspielungen veröffentlicht), verbieten nähere stilkritische Untersuchungen diese Zuordnung. Das Werk ist in einer Abschrift überliefert, die als Urheber nur „di Bach" vermeldet. Im Rahmen dieser Einspielung, die alle noch erhaltenen Orchesterwerke Wilhelm Friedemann Bachs erstmalig vereint, wird hörbar, dass er aller Wahrscheinlichkeit nach der Komponist dieser Suite ist. Einzelne Sätze, wie das „Capriccio" lassen sich mit der Fuge der d-moll Sinfonie vom Aufbau her vergleichen oder die Menuette aus der Suite mit dem Menuett aus der F-Dur Sinfonie. Keiner der anderen Bach-Söhne, die stilistisch weniger heterogen komponiert haben, hat ähnlich strukturierte Werke geschrieben. Deshalb ist eine Zuweisung zu einem anderen Bach-Sohn nicht möglich. Schon die Ouvertüre ist nicht der typische Einleitungssatz nach französischem Muster. Der erst nach Johann Sebastian Bach aufkommende „vermischte Stil", der von Wilhelm Friedemanns Zeitgenossen Johann Joachim Quantz ausführlich besprochen wird, kommt hier zum Tragen. Die langsame Einleitung der Ouvertüre stellte sich uns vielmehr als eine harmonische Vorgabe dar, die uns herausforderte, in der Art von Quantz' Anweisung „Von der Art, das Adagio zu spielen" „willkührliche Auszierungen" anzubringen. Dabei spielte auch die Überlegung hinein, dass eine orchestrale Besetzung für dieses Stück nicht belegt ist und somit solistische Spielweisen auch auf ein kleines Orchester übertragen werden können. Eine bemerkenswerte Quelle für diesen interpretatorischen Ansatzpunkt sind Stimmen, die durch den Komponisten und Konzertmeister der Königlichen Kapelle in Dresden, Georg Pisendel, mit zusätzlichen Verzierungen in Orchesterwerken eingerichtet wurden. Sie werden heute noch in der Sächsischen Landesbibliothek aufbewahrt und galten für uns als beispielhaft. Johann Joachim Quantz musizierte in seiner Dresdner Zeit zusammen mit Georg Pisendel und schrieb in seinen Anmerkungen über das Orchesterspiel, dass solcherlei Praxis zu seiner Zeit durchaus üblich gewesen sei. In seinen Darlegungen fordert er aber, dass ein Tuttist nicht mehr oder anders verzieren darf, als ein Konzertmeister. Dabei stellt er fest, dass ein „Anführer" die Ausführung der „Manieren" für die Tuttisten festlegen soll . Bei den Tanzsätzen haben wir versucht, den Regeln zu folgen, dass zunächst erst einmal die aufgeschriebene Idee des Komponisten „mit gutem Vortrage" zu hören ist, bei den Wiederholungen bemühen wir uns um die andere Forderung von Quantz : „mannigfaltig seyn". Dadurch denken wir, die heterogenen Elemente dieser Musik auch deutlich zur Geltung zu bringen. Bei dieser Einspielung benutzen wir die in dieser Zeit in Dresden übliche Aufstellung des Orchesters, wobei sich die beiden Violingruppen gegenüberstehen und damit das Wechselspiel besonders deutlich zur Geltung kommt.

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