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Wagner, Richard: Siegfried, Deutlichkeit gibt das Tempo an. Tempi, Balance, Klangcharakteristik und Klangeffekte bei Wagner

Booklet-Beitrag zur SACD-Ausgabe

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Tempo
Es gibt erstaunliche Unterschiede bei Siegfried in der Spieldauer in Bayreuther Aufführungen von 49 Minuten. Mit wenigen Ausnahmen wurde das Tempo immer langsamer. Natürlich ist Tempo von vielerlei Faktoren abhängig. Wenn wir davon ausgehen, dass heute bestimmte spieltechnische Probleme leichter zu bewältigen sind als zu Wagners Zeit, ist der Unterschied zu Wagners Tempo-Ideen bei den heute üblichen langsameren Aufführungen als noch größer anzunehmen.
Richard Strauss hat einmal gesagt: "Nicht ich bin im Parsifal schneller, sondern ihr in Bayreuth seid immer langsamer geworden. Glaubt mir, es ist wirklich falsch, was ihr in Bayreuth macht." Auch Gustav Mahler hat sich dahingehend geäußert.
Hinzu kommt dort die Besonderheit des "unsichtbaren" Orchesters, in welchem durch die besonders tiefe Aufstellung des Orchesters unter der Bühne der direkte Kontakt der einzelnen Musiker zur Bühne unmöglich ist, weswegen eine allgemeine Tendenz zu langsamen Tempi in Bayreuth zu bemerken ist, die Wieland Wagner treffend umschreibt: "Daher kommt zu einem großen Teil auch das Schleppen hier in Bayreuth. Der eine wartet mehr oder weniger unbewusst auf den anderen und entschließt sich erst dann weiterzugehen, wenn er ihn zu hören meint." Es ist allgemein bekannt, dass die besondere und viel gelobte Akustik von Bayreuth eigentlich nur wirklich im Parsifal voll funktionsfähig ist. In den frühen Stücken, die für andere Bühnen komponiert wurden und auch im Ring, der von viel dichteren Strukturen lebt, als Parsifal, ist man sich bewusst, dass die Bayreuther Akustik durchaus nicht das Ideal ist, da sie die Kontrapunktik dieser Werke verwischt. Aus Bemerkungen und Aufzeichnungen kann man vermuten, dass Wagner selbst möglicherweise Veränderungen angebracht hätte, wenn er 1896 den Ring noch einmal selbst hätte realisieren können.
In der Amsterdamer Produktion haben wir deshalb bewusst den anderen Weg gewählt: Das Orchester als Teil des Dramas betrachtet und in die Bühne einbezogen, so wie es Wagner selbst in „Oper und Drama“ vorschwebte.
Die von den Assistenten notierten Bemerkungen, die über die Partituranweisungen hinausgehen, eröffnen auch grundlegend neue interpretatorische Ansätze, die im Laufe der vergangenen 100 Jahre verloren gegangen sind.
In unserer Produktion in Amsterdam waren wir durch das Zusammentragen aller Quellen in der Lage, erstmalig alle Aufzeichnungen der musikalischen Assistenten von 1876 (Porges, Levi, Mottl und Kniese ) in die Interpretation aufzunehmen. Auf Grundlage der originalen Aufführungsideen Wagners müsste die Gesamttendenz bei der Aufführung seiner Werke also etwas schneller sein, als bei der Uraufführung. Wenigen Beispielen machen deutlich, worum es Wagner ging.
Für Walküre und Siegfried sind insgesamt 715 Bemerkungen überliefert. Das erstaunliche ist, dass davon 208 Anweisungen schnellere Tempi verlangen, als sie vom Uraufführungsdirigenten Hans Richter in den Proben realisiert wurden. Das sind 30% aller überlieferten Bemerkungen, die an Deutlichkeit nichts vermissen lassen: „Nicht langsam“, „niemals schleppend“ (allein 36 mal in diesen beiden Opern), „immer flüssig“, „nie zu langsam“, „nicht zu langsam werden“, „ja nicht breiter“, „sehr fließend“, „immer vorwärts“, „keine Arie“, „immer erzählend“, „vorwärtsstürmend“, „vorwärts im Tempo“, „in straff vordringendem Zeitmaß“ usw. Bei den „Schmiedeliedern“ heißt es: „Nicht zu breit im Tempo“, später „sehr fließend“ und „etwas leichter im Tempo“. Also ganz im Gegensatz zur heutigen Aufführungstradition, die es auch den Sängern fast unmöglich macht, diese Partie „durchzustehen“. 17 mal findet sich: "Ohne Sentimentalität".
Im ersten Akt von Siegfried bei Mimes Text "Nun tobst du wieder wie toll" schreibt Wagner in der Partitur erst "Sehr allmählich immer etwas langsamer" und einige Takte später "Sehr mäßig und immer noch langsamer", um kurz danach ein neues, durch die Verlangsamung erreichtes Tempo mit "Andante" anzugeben. Offensichtlich führte das schon zu Zeiten der Uraufführung zum zu langsamen falschen Tempo. Dazu bemerkte Wagner: "Alle Tempomodifikationen genau beachten, jedoch in langsamen Stellen nie soweit gehen, dass das Gefühl verweilender Ruhe sich erzeuge." Zum Beginn des zweiten Aktes Siegfried gibt es in der Partitur eine Tempoanweisung "Träg und schleppend", vom "Riesenmotiv" und "Hortmotiv" als musikalischer Ausdruck des auf dem Hort schlafenden Riesenwurms Fafner beherrscht. In neueren Interpretationen wird dieser Anfang außerordentlich langsam genommen. Wagner umschreibt aber in seinen Probenanweisungen von 1876 sehr genau, was er darunter versteht: "Das träg und schleppend kommt durch ein geringes Zurückhalten beim 2. und 4. Viertel des Riesenmotivs am Besten zum Ausdruck, in den Zwischentakten wieder vorwärts im Tempo." Im dritten Akt, beim "Vaterfreude-Motiv", welches er in der Partitur mit "sehr mäßig" bezeichnet, bemerkt er: "Diese ersten Achtel immer etwas gehalten, dann weiter fließender..." Diese Beispiele und die große Anzahl der Anweisungen für die Textartikulation und den Ausdruck machen deutlich, dass Wagner dem Sprachrhythmus und der sprachlichen Verständlichkeit mit seinen Tempi folgte und somit jeder Form der Zerdehnung und falscher Sentimentalität entgegenwirkte. Bei Mime „Das der Sorgen schmählicher Sold!“ (I,1 T.505) wünschte Wagner „die letzten 7 Takte ein wenig ritardando“. Interessant, dass dies auch in der einzigen frühen Aufnahme von 1928 noch gemacht wird. Erst später verlieren sich diese Überlieferungen bei Toscanini und Furtwängler.
Oder wieder Beschleunigungen z.B. nach dem Wanderer „als wilder Wurm hütet nun Fafner den Hort“ (II,2 Ziff 62) „etwas weniger langsam“. Auch bei Brünnhilde: „O Siegfried“ (III,3 1150) „von hier an etwas weniger breit“. Oder das wirklich gravierende Beispiel: „den Gesang der Vogelstimme nicht übereilen, die Worte sollen verständlich bleiben“ deswegen hat Wagner auch in der Probenarbeit von 1876 den Rhythmus so verändert (gegenüber der heute noch gedruckten Partitur), dass es besser verständlich wird und vor dem Einsatz des Waldvogels noch ein kleines Ritardando eingebaut.
Am eindrucksvollsten ist die etwas überspitzte Proben - Bemerkung Richard Wagners im Jahre 1876, die innerhalb der Untersuchungen für die Quellen zur Aufführungspraxis wieder ans Tageslicht getreten ist:
"Wenn Ihr nicht alle so langweilige Kerle wärt, müsste das Rheingold in zwei Stunden fertig sein."

Balance
Porges verweist auch auf das Verhältnis der Dynamik zwischen Sänger und Orchester, was letztlich nicht nur dynamische Folgen sondern auch Tempokonsequenzen hat: "Bei den Proben des Nibelungenringes stellte es sich nämlich als eine Nothwendigkeit heraus, an vielen Stellen die dynamischen Bezeichnungen der Tonstärke zu ermäßigen, öfter an die Stelle eines Fortissimo ein forte, an die Stelle eines forte ein Mezzoforte u.s.w. zu setzen. Dies geschah aus dem Grunde, um vor allem Wort und Ton des Sängers zu deutlichem Vernehmen gelangen zu lassen; denn wir sollen eben keinen Moment vergessen, dass wir einer dramatischen Aufführung, die durch die überzeugende Gegenwärtigkeit einer dem wirklichen Leben nachgebildeten Handlung zu wirken hat, beiwohnen, und nicht etwa ein Werk der rein symphonischen Kunst aufzunehmen haben. Für den Vortrag jener symphonischen Sätze, bei denen gleichzeitig der Darsteller durch das gesungene Wort wirken soll, gilt daher die Vorschrift, dass bei ihnen die Kraft der Tongebung nie den äußersten Grad erreichen darf." Die Erfahrung mit Sängern des "schweren" Faches zeigt aber, dass je größer der Ton, desto langsamer das Tempo wird. Wagner wollte offensichtlich bewusst hier dagegen angehen. Porges fährt fort: "Dieses Verhältnis der Tonstärke des Orchesters zum Sänger kam im Verlaufe der Proben öfter zur Sprache, und der Meister bediente sich wiederholt und mit Vorliebe des Vergleichs, dass das Orchester den Sänger stets so tragen solle, wie die bewegte See einen Nachen, diesen aber nie in die Gefahr des Umschlagens bringen oder gar verschlingen dürfe. Die Beachtung dieser Vorschrift darf aber die Spieler ebenso wenig dazu verleiten, in eine weichliche oder gar gleichgültige Vortragsweise zu verfallen, sondern sie müssen vielmehr mit angespanntester Aufmerksamkeit darauf bedacht sein, durch besonders deutliche Phrasierung der Perioden und äußerste Bestimmtheit in der Ausführung der metrischen und rhythmischen Akzente, die plastischen Umrisse ihrer Melodien- und Themenkomplexe in aller Prägnanz hervortreten zu lassen." Wenn das schon für die das Orchester dämpfende akustische Situation in Bayreuth galt, um wieviel mehr, ist es für andere Opernhäuser gültig! Einige Beispiele von Wagners nicht in der Partitur enthaltenen Bemerkungen mögen das verdeutlichen:
„Fagott und Clarinette sehr deutlich, nicht von den Hörnern abgedeckt“ (I,1 T. 112)
„Orchester sehr zu dämpfen“ (I, 2 T. 1289 )
„ die cresc./dim-Klammer kaum beachten“ wenige Takte später: „alle cresc. sehr wenig! Immer begleiten“ (I,2 T. 1601)
„mit dem weitausgedehnten cresc. so viel wie möglich zurückhalten“ (I,3 T. 1931). Hier ist Mime mit „Was säuselt und summt“ in der Mehrzahl der Aufführungen nicht zu hören.
Bei den „Schmiedeliedern“: „Mit glanzvoller Leichtigkeit, nicht zu sehr forte“ und im kurzen Zwischenspiel (Ziff. 113) „die folgenden 4 Takte sehr schwer und im Tempo zurückhaltend, die Figur der Holzbläser leicht flatternd“; mit Einsatz von Siegfried “hier wieder vorwärts“. Beim Wanderer „Wala erwache“: „Im Orchester immer die Stärke mäßigen des Sängers wegen“ (III,1 T. 176). Alle diese Bemerkungen geben ein eindeutiges Bild über die Klangverhältnisse zwischen Sänger und Orchester.

Klangcharakteristik
Zahlreiche andere Bemerkungen beziehen sich auf Klangbilder:
Siegfried singt: „Da hast Du die Stücke“. Dazu Wagner: „Mit energischer Kraft und doch wie mit spielender Leichtigkeit zu spielen“.
Über Phrasierung: Mime singt: „Was Vater, was Mutter“ mit Wagners Tempobezeichnung „Schnell“. Dazu Wagner in der Probe: „Der ganze Tonsatz ohne viel Detailakzente im Sturm hervorbrechend“. Also insgesamt eine große Linie aufbauen. Über die Holzbläser vor Mimes Einsatz „Einst lag wimmernd ein Weib“ (I,1 T. 970): „Die Bläser durchaus empfindungsvoll, aber immer eingedenk bleiben, dass es sich um Erinnerungsmotive und nicht um unmittelbare Erlebnisse handelt“. Bei Siegfried (I,1 T.1132) „Das Ganze fast wie im Charakter der komischen Oper zu halten“. Diese Bemerkung wird von allen Assistenten übereinstimmend festgehalten. Über die Vorschläge der Violoncelli (II,2 Ziff. 57) vor Mimes „Wie werd’ ich den Lauernden los?“ bemerkt er: „Das muß ein komischer Effekt sein“ und „sehr drastisch ausführen“. Auf der anderen Seite verlangt Wagner „so geheimnisvoll wie möglich“ vor dem Einsatz „Viel, Wanderer, weißt du mir von der Erde rauem Rücken“ (II,2 T. 1507). Die heute normalerweise sehr pathetisch vorgetragene Akkordkette beim Wanderer (II,2 Ziff 66) „ewig gehorchen sie Alle des Speeres starkem Herrn“ verlangt Wagner das Gegenteil: „etwas leichter die ganze Akkordkette“ und „ein geringes beschleunigen“.

Klangeffekte
Selbst in der Uraufführung musste Wagner – vermutlich da kein geeigneter Junge in Bayreuth verfügbar war - von seiner ursprünglichen Idee Abstand nehmen und die „Stimme des Waldvogels“ mit einer Frauenstimme besetzen. Die originale Fußnote Wagners in der Partitur: „Von einer Knabenstimme zu singen“ wird in unserer Produktion wohl erstmals auf einer CD-Edition umgesetzt.

Interessant sind auch die Anweisungen der Assistenten über den Gebrauch von Wind – und Donnermaschine, die weit über die Partituranweisungen hinausgehen. Dabei ist die Donnermaschine in unserer Produktion erstmals ein Nachbau der von Wagner gebrauchten Donnermaschine und kein elektronischer Effekt.

Auch die Benutzung des von Wagner vorgeschlagenen Sprachrohrs haben wir hier ohne jegliche elektronische Technik bei Fafners Rufen umgesetzt.

Hartmut Haenchen

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