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21. March 2023 · Frankfurter Allgemeine Zeitung

Unbequem statt hochnäsig

Er balanciert akribisches Quellenstudium mit moderner Orchesterpraxis aus. Das macht ihn zu einem der wichtigsten Dirigenten unserer Zeit. Jetzt wird Hartmut Haenchen achtzig Jahre alt.

Er schaut sich buchstäblich jeden Punkt, jeden Strich, jeden Keil genau an, den der Komponist geschrieben hat. Trotzdem würde Hartmut Haenchen nie auf die Idee kommen, dieses akribische Studium der Quellen schon als Werktreue auszugeben. Dass auch der Einsatz historischer Instrumente noch kein historisches Bewusstsein bedeute, hat er immer wieder betont. Er rekonstruiert Klangvorstellungen und Spieltechniken, die er dann meisterhaft mit der modernen Orchesterpraxis ausbalanciert. Das allein macht ihn zu einem der wenigen wirklich wichtigen Dirigenten unserer Zeit.

Es gibt Werke, auf die er sich jahrelang vorbereitet hat. An Beethovens Missa solemnis wagte er sich erst mit 62. Für Orchester ist seine Arbeit nicht immer einfach. Er lässt sich nichts vormachen, bringt oft sein eigenes Notenmaterial mit. Dass jeder Bogenstrich hinterfragt wird und permanente Selbstreflexion als Maxime gilt, passt kaum zu jener kollegialen „Wie sind wir alle toll“-Emphase, die sich vielfach eingebürgert hat und die doch nur zu hoch getragenen Nasen und tief gesunkenen Maßstäben führt.

Geboren in Dresden, sang Hartmut Haenchen als Knabe im Kreuzchor, studierte in seiner Heimatstadt zunächst Gesang, dann auch Dirigieren und holte sich wichtige Impulse von Arvids Jansons und Jewgeni Mrawinski am Konservatorium im damaligen Leningrad. In der DDR brachte er es zum Musikdirektor in Schwerin, wurde aber jahrelang von der Staatssicherheit bespitzelt und durfte die undemokratische Republik schließlich 1986 als „Selbstfreikäufer“ verlassen. Damit begann seine internationale Karriere. Er wurde Chefdirigent des Niederländischen Philharmonischen Orchesters und der Oper von Amsterdam, gastierte in Londons Covent Garden und der Opéra de Paris, an der Mailänder Scala, in Wien und Zürich. Sein Debüt an der Metropolitan Opera in New York mit Wagners Tristan fiel Corona zum Opfer und wird hoffentlich bald nachgeholt.

Bei den Bayreuther Festspielen leitete er 2016 und 2017 Parsifal, zweifellos musikalisch die wichtigste Aufführung des Stücks in den letzten Jahrzehnten neben Pierre Boulez – und doch ganz anders als dieser. Dabei geht es nicht nur um flotte Tempi. Es klingt lapidar und meint doch eine komplexe Mischung, wenn Haenchen sagt: „Manches ist ja auch besser geworden, und Wagner war keineswegs mit allem zufrieden, was damals möglich war.“ Was diesen Dirigenten besonders interessiert, ist das, was sich zwischen dem Abschluss des Autographs und der Uraufführung verändert hat. Da nämlich wurden Komponisten wie Verdi, Wagner oder Richard Strauss besonders aktiv: Wenn sie ihre Stücke auf den Proben zum ersten Mal hörten. Gemessen an diesem Anspruch wirkt der Langsamkeitszinnober, der vielfach noch immer veranstaltet wird, hausbacken und selbstgefällig.

Haenchens epochale Aufnahme von Bruckners Achter kommt mit 69 Minuten aus. Sie wirkt unspektakulär und ist doch eine Revolution des Details. Auf die winzigen Veränderungen des Tempos, auf die Mikroagogik kommt es an. Man hört nicht nur, was Haenchen weiß, sondern was er kann. Auch bei Mozart und Mahler zeigt er immer wieder, dass Artikulation und Phrasierung nicht dasselbe sind, sondern häufig auf überaus lebendige Weise ihre eigenen Wege gehen – wenn man sie lässt. Mit dem Kammerorchester Carl Philipp Emanuel Bach, das er drei Jahrzehnte leitete, gelangen ihm schon in den Achtzigerjahren Haydn-Aufnahmen, die bis heute nichts von ihrer Frische verloren haben. Brahms dirigiert er ganz aus dem Geist der Meininger Hofkapelle, allerdings nicht irgendeiner diffusen Tradition folgend, sondern den Aufzeichnungen von Fritz Steinbach, der eng mit dem Komponisten zusammengearbeitet hatte.

Bequem ist Haenchen weder gewesen noch geworden. Für Uraufführungen, aber auch für Aribert Reimanns „Lear“ und Bernd Alois Zimmermanns „Soldaten“ setzte er sich immer wieder ein. Schostakowitschs „Lady Macbeth von Mzensk“ gelang ihm mit einer Schärfe, Virtuosität und Poesie, wie man sie sonst nur bei Mariss Jansons erleben konnte. Am 21. März wird er achtzig Jahre alt. Er feiert dort, wo sein Rang früh erkannt wurde und er seit einigen Jahren auch Staatsbürger ist: in Amsterdam, mit einem Konzert im großen, hellhörigen Saal des Concertgebouw. Auf dem Programm steht neben Bruckners Siebter auch ein Auftragswerk.

Stephan Mösch

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