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28. October 1995 · Dresdner Neueste Nachrichten

Hartmut Haenchens Heimatstadt Dresden Fluchtort und Zufluchtsort

Nach einem Interview in den Dresdner Neuesten Nachrichten mit Peter Zacher

Hartmut Haenchens Heimatstadt Dresden Fluchtort und Zufluchtsort

 

Nach einem Interview in den Dresdner Neuesten Nachrichten mit Peter Zacher, 28/29. Oktober 1995

 

Verabredet bin ich mit Hartmut Haenchen in Loschwitz am Dresdner Hang. Mühevolles Suchen nach der richtigen Straße, mehrere Male umkehren und zurückfahren. Schließlich wage ich, auf Empfehlung von Ortskundigen, ein Sperrschild zu ignorieren, komme so ans Ziel. (Merke: wenn man etwas erreichen will, darf man sich nicht immer an alle Vorschriften halten.) Das Haus ist eingerüstet, im Innern ein Irrwitz von Baustellen - kann man hier denn überhaupt leben? Man kann. Die oberste Etage ist ausgebaut, noch nicht fertig zwar, aber schon einigermaßen wohnlich. Wer sich so einrichtet, tut er es, um hier zu leben? Zieht es den 1943 geborenen Dirigenten doch wieder nach Dresden? War Dresden so etwas wie eine Jahre bewahrte Sehnsucht?

Tatsache ist, Haenchen und seine Frau lassen eine Wohnung nach exakten eigenen Vorstellungen ausbauen, obwohl sie nicht wissen, ob sie jemals hier ganz wohnen werden. Was aus dem Rest des Hauses wird, ist ihnen nicht bekannt, auch nicht, ob einem Restitutionsanspruch von anderer Seite entsprochen werden könnte. Dennoch, ungefragt verwendet Haenchen das Wort Zufluchtsort. Die Geschichte des Hauses ist ohnehin merkwürdig. Als die Familie in Dresden wohnte - eine lange Zeit, doch davon später - , bemühte sie sich bis zum Weggang nach Amsterdam 1985 („nicht ganz freiwillig", meint Haenchen, aber das ist ein Understatement) um eine Wohnung, in der man wenigstens in Ruhe arbeiten kann. Die alte Wohnung unmittelbar an der Teplitzer Straße war ein Alptraum, selbst dann laut, wenn man nicht Musiker ist: sechsspurige Verkehrsstraße, zwei Ampeln, ein Plattenwerk mit Lkw-Verkehr und eine sowjetische Kaserne mit nächtlichen Panzerfahrten. Kaum sind Haenchens in Amsterdam, kommt ein Hinweis, daß jemand in Dresden ein Haus privat verkaufen wolle. „Aus diesem Heimatgefühl heraus", bekundet Haenchen seine Kaufabsicht. Das Wunder geschieht, er bekommt die staatliche Genehmigung zum Kauf. Offenbar geschieht das, weil einige Leute (Wolfgang Berghofer etwa, der damals neue Oberbürgermeister, vermutet Haenchen) schon mit dem vorsichtigen Umdenken begonnen haben. Und so freut sich Haenchen, als alter Dresdner durch den Wiederaufbau eines typischen Dresdner Hauses auch ein Quentchen zur Rekonstruktion alter Schönheit der Stadt beitragen zu können obwohl er alles hineinstecken muß, was er besitzt.

 

Prägendes Vorbild - Rudolf Mauersberger

 

Da ist es wieder, das Wort vom alten Dresdner, so kostbar, als spräche man von alten Kunstwerken oder alten Weinen: Die frühe Dresdner Phase heißt für Hartmut Haenchen auch Kreuzchor, und darüber kann man eben nicht sprechen, ohne Rudolf Mauersberger zu nennen, dem Kreuzkantor mit der sagenhaften Fähigkeit, die Jungen, auch Haenchen, an der richtigen Stelle zu packen und zu fordern. Oder zu fördern. Beides gehört zusammen. Er schafft Freiräume, läßt den erst Zwölfjährigen bereits Gruppenproben leiten - systematische Förderung eines Talents. Ohne Mauersberger wäre die Berufswahl nicht so geradlinig verlaufen. Geradlinig? Haenchen bewirbt sich um ein Dirigierstudium, wird nicht angenommen, studiert statt dessen Gesang, was er nicht als Nachteil oder gar Zeitverschwendung versteht. Im dritten Studienjahr unternimmt er einen zweiten Versuch und hat diesmal Erfolg.

Aber vor dem Studium liegt noch etwas Ungewöhnliches, die Wiederentdeckung des Requiems von Johann Adolf Hasse. Haenchen setzt sich mit Mauersbergers Interpretationsstil auseinander, erkennt plötzlich zum ersten Mal, daß es besonders in der älteren Musik doch mehrere Möglichkeiten der Interpretation gibt. Als ganz junger Kruzianer hatte er noch jede Version, der er erstmalig begegnete, für die reine Wahrheit gehalten. Mit dreizehn Jahren beginnt er, Bücher zu Interpretations - und Aufführungsfragen zu lesen, entdeckt für sich den Reichtum an Handschriften in der Sächsischen Landesbibliothek. Dabei sucht er gar nicht einmal nach alten Partituren, sondern nach alten Schriften zur Aufführungspraxis. Und dem Jungen kommt zugute, daß er damals schon beim Lesen einer Partitur Klangvorstellungen hat. Er stößt auf Hasse, von dem damals Mitte der fünfziger Jahre, kaum jemand etwas kennt. Haenchen beginnt, aus alten Handschriften abzuschreiben, lernt unglaublich viel dabei. Er lernt, einen Generalbaß auszusetzen, wovon er bis dahin keine Ahnung hatte. Das Lesen von Handschriften betreibt er heute noch, denn er ist ein akribischer Dirigent, der sich auch und gerade bei Werken des Standardrepertoires immer wieder an Autographen orientiert. „Da fallen einem plötzlich Druckfehler selbst in neuesten Ausgaben auf, die nur deshalb entstehen, weil sich Musikwissenschaftler nicht in einen schöpferischen Prozeß hineindenken können". Kurzum, es kommt zur Aufführung des Hasse-Requiems und das wird zugleich Haenchens Aufnahmeprüfung für die Hochschule. Er war ja schon mit fünfzehn Jahren als Kantor tätig und konnte erste Erfahrungen mit Chören und kleinen Orchestern machen.

Nach Abschluß des Studiums geht Haenchen 1966 nach Halle, wird Direktor der Robert-Franz-Singakademie und Dirigent der Halleschen Philharmonie. 1972 wird er 1. Kapellmeister in Zwickau. An der Berliner Staatsoper dirigiert er Modest P. Mussorgskis Boris Godunow. Es folgen als Ergebnis des ersten Preises („zu meiner eigenen Überraschung") im Dirigierwettbewerb erste Gastaufgaben in Dresden zunächst Serenaden, dann große Konzerte mit der Philharmonie. Diese Zusammenarbeit hält bis 1976 an.

Hätte es nicht nahegelegen, ihm den Posten des Chefdirigenten zu übertragen, als der 1977 frei wurde? Gab es Irritationen, Mißhelligkeiten? „Sie existierten, waren einseitig, gingen aber nicht von mir aus. Ich habe zehn Jahre lang keine Einladung an die Philharmonie bekommen. Es gab im Orchester Kräfte, die dafür sorgten, daß ich grundsätzlich nicht eingeladen werden konnte. Ich bin überzeugt, daß sie als verlängerter Arm der Machthaber wirkten. Das habe ich später anhand meiner Akte eindeutig feststellen können. Aber dann geschah für mich das Wunder, daß ich ausgerechnet am Vorabend der Maueröffnung wieder ein Philharmoniekonzert dirigierte."

Wir sind der Chronologie vorausgeeilt. Noch schreiben wir das Jahr 1976. Haenchen wechselt zur Mecklenburgischen Staatskapelle nach Schwerin. Mecklenburg und große Musik? Dresdner pflegen da gewöhnlich etwas hochnäsig zu reagieren. Was kann dort schon Nennenswertes geschehen? Immerhin waren unter Haenchens Vorgängern in diesem Amt Kurt Masur (1958 bis 1960) und Klaus Tennstedt (1962-1971), über deren internationale Reputation ebenso wie die Haenchens nun wirklich nicht viel geredet werden muß. Es folgt die Zeit, in der Haenchen freischaffend tätig ist und vor allem an Berliner Theatern wirkt. An der Staatsoper dirigiert er fast alle Mozart-Opern, Paul Dessaus Lukullus, Richard Wagners Tannhäuser und Parsifal, an der Komischen Oper Glucks Orfeo und Aribert Reimanns Lear. Er ist Gast des Rundfunk-Sinfonie-Orchesters und gastiert 1985 erneut in Dresden, aber nicht bei der Philharmonie, sondern zur Wiedereröffnung der Staatsoper am Pult der Staatskapelle bei der Uraufführung von Siegfried Matthus’ Oper Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke. Ein Jahr später, im Juli 1986, dirigiert er am gleichen Pult die Premiere von Richard Strauss’ Elektra mit der großartigen Regie der Ruth Berghaus. Aber da ist das Verhältnis zwischen Haenchen und der Staatsmacht der DDR schon völlig zerrüttet. Ich erinnere mich an ein Gespräch mit ihm, das kurz vor dieser Premiere stattfand. Damals war dem Dirigenten die Verbitterung deutlich ins Gesicht geschrieben, obwohl er eigentlich Grund zur Freude gehabt haben müßte: er stand kurz vor seiner endgültigen Übersiedlung nach Amsterdam.

Die Firma Partei & Regierung hatte schon einige Jahre zuvor einen ungeschickten Versuch gemacht, das Ärgernis Haenchen loszuwerden. Völlig unerwartet erhielt er die Erlaubnis, bei einer Konzertreise nach Japan seine Familie mitzunehmen. Dahinter stand die Hoffnung, er würde die Gelegenheit nutzen und wegbleiben. Die Familie beschloß aber, diese Gelegenheit nicht zu nutzen, denn der Weg für eine Rückkehr als Gastdirigent wäre damit verbaut gewesen. „So nicht! Wenn man mich loswerden will, muß man das schon deutlicher sagen. Und außerdem wußte ich nicht ganz genau, was da eigentlich gespielt wird". Noch ein weiterer gewichtiger Grund kam hinzu: 1980 war Haenchen zum künstlerischen Leiter des Kammerorchesters Carl Philipp Emanuel Bach in Berlin gewählt worden. Das geschah in einer Zeit, in der Haenchen nicht reisen durfte, sich allerhöchster Ungnade erfeute und eigentlich gar nichts mehr ging. Da war also ein Orchester, das den Mut hatte, Haenchen trotzdem zum Chef zu berufen. Das allein schon spricht für seine Leistungfähigkeit als Musiker, erklärt aber auch, daß er sich diesem Orchester bis heute nicht nur künstlerisch, sondern auch moralisch verpflichtet fühlt.

 

Eklat in Schwerin kostete Chefposition

 

Das gab es in jenen Zeiten eben auch, diesen Männerstolz vor Königsthronen. „Ohne diese Haltung von Musikern wäre ich wahrscheinlich ziemlich untergegangen". Alles das ereignete sich nach dem „Schweriner Skandal", der zum Drehpunkt des gespannten Verhältnisses geworden war. Die Chefposition in Schwerin war nach Dresden für Haenchen außerordentlich wichtig. Während das Schauspiel immer sehr schnell auf den politisch jeweils neusten Stand reagierte, war in der Oper die Verzögerung durch den längeren Produktionsprozeß recht beträchtlich. Die Oper rangiert für den Intendanten sowieso ganz weit hinten: die Behandlung war dementsprechend. Haenchen bekam kaum Probenzeiten, weil alles in das Schauspiel hineingestopft wurde. Das Orchester mußte in Kauf nehmen, daß ihr Chef auf Anweisung des Ministers eine Japantournee unternahm. („Ich hätte damals nein sagen müssen") Der eigentliche Auslöser aber war ein doppelter: das Gerangel um Friedrich Goldmanns Oper Hot, die der Obrigkeit zum 30. Jahrestag der DDR überhaupt nicht gefiel. Also verbannte man die Oper ins Foyer und wollte nicht den Chefdirigenten, sondern den Studienleiter dirigieren lassen, um dem Werk „kein Übergewicht" zu verleihen. Außerdem sollte im Festakt zum Jahrestag die 2. Sinfonie Dmitri Schostakowitschs aufgeführt werden, aber nur das Chorfinale "Widmung an den Oktober" ohne den richtigen Kontext des Gesamtwerkes. Haenchens Weigerung kam dem Intendanten sehr gelegen - die Episode Schwerin endet hiermit.

Einen so hinausgeworfenen Dirigenten wählen nun Berliner zum Chef! So armselig waren wir, daß wir das schon als Mutbeweis werten müssen. Und zugleich ist es erstaunlich, daß Haenchen nun trotz des Schweriner Eklats in den knapp sieben Jahren danach bis zu seinem Weggang auch in der DDR höchst attraktive Aufgaben erhielt. Berlin ohnehin, aufgepäppelt und auch künstlerisch zum Schaufenster instrumentalisiert, daneben Dresden in der auch international stark beachteten Phase der ersten vier Premieren im pompös wiedereröffneten Haus. Und Auslandsgastspiele gab es ohnehin - Haenchen war zu einem sehr gefragten Dirigenten geworden.

Seltsamerweise ist Holland eins der letzen europäischen Länder, in denen Haenchen dirigierte. 1984 wird er eingeladen, mit dem Philharmonischen Orchester Rotterdam Elektra in einer Produktion Harry Kupfers zu dirigieren. Es läuft gut, das Orchester einschließlich seiner Leitung reagiert unmittelbar und positiv. Es folgt sofort eine Reihe von Einladungen, dieses und andere holländische Orchester zu dirigieren. Haenchen profitiert davon, freischaffend zu sein. Das macht ihn flexibel, so daß er die Einladungen annehmen kann. In diese Zeit (1985) fällt die Gründung der Niederländischen Philharmonie in Amsterdam, eine Gründung, bei der einiges recht unglücklich verlaufen ist, weil man mehr auf soziale Absicherung als auf künstlerische Leistungsfähigkeit orientiert ist. Drei Orchester, in Qualität und Mentalität höchst unterschiedlich, werden zusammengeworfen.

Haenchen wird gefragt, ob er bereit ist, die Leitung zu übernehmen. Er weiß, daß Hans Vonk nach Dresden gehen wird, er weiß außerdem, daß man ihn gern los sein möchte, rechnet sich also gewisse Chancen aus, die Genehmigung der DDR zur Amtsübernahme und zur Ausreise zu erhalten. Die Niederlande haben zudem ein Kulturabkommen mit der DDR, so daß er die Brücken nicht völlig abbrechen muß. Es kann ein Fehler sein, in der Politik mit Logik zu argumentieren, aber dieses Mal geht die Rechnung auf. Trotzdem weiß er beim Weggang nicht, ob er je wieder zurückkommen darf.

Auch wenn er es zu verdrängen sucht, nagt es an ihm (und erklärt, warum er vor neun Jahren älter aussah als heute). Es treibt ihn noch eine ganze Weile um und ist vielleicht bis heute noch nicht ganz überwunden. Und trotzdem: „Ich rede heute auch mit denen, die mir damals übles angetan haben. Ich bin kein nachtragender Mensch. Ich habe weder Rachegedanken noch Hassgefühle." Sollten aber einzelne von ihnen wieder in eine exponierte Stellung geraten, denkt er neu über seine Haltung nach. „Ein einziges Mal habe ich von meinem Wissen aus den Akten Gebrauch gemacht und bin aktiv geworden." Inzwischen ist Haenchens Vertrag in Amsterdam bis 1999 verlängert worden. Das spricht nicht dafür, daß man dort mit ihm besonders unzufrieden ist. Seine Arbeit hat Merkwürdigkeiten. Nicht nur, daß er in einer Doppelfunktion als Opern-Chefdirigent und Orchesterchef tätig ist. Die Amsterdamer Oper hat kein eigenes Orchester, und in die Niederländische Philharmonie ist das Kammerorchester Nederlands Kamerorkest eingebunden. Die Philharmonie ist ein riesiges Unternehmen, das ungefähr 150 Konzerte im Jahr spielt. Dazu kommen achtzig Vorstellungen in der Oper. Natürlich findet das nicht alles unter der Leitung des Chefs statt; aber in den dreizehn Jahren seiner Tätigkeit hat er nicht weniger als ca.630 Konzerte dirigiert, dazu 44 Premieren und 380 Vorstellungen in der Oper. (2014 sind es inzwischen über 700 Konzerte, 70 Opern-Premieren und 585 Vorstellungen.) Die Gefahr der Erschöpfung künstlerischer Potenz liegt da sehr nahe. Aber das ist ein Problem, vor dem nicht wenige Dirigenten stehen. Bei aller Achtung allein vor der physischen Leistung („Das hat etwas mit Mauersberger zu tun") bekennen diese Zahlen aber auch die Krise, in der sich das Musikleben vieler Länder befindet.

 

An der Grenze zur Überlastung?

 

Das Orchester, unter unglücklichen Umständen als Konglomerat entstanden, mußte von Haenchen in kürzester Zeit zu einem Spitzenensemble getrimmt werden. Die Konkurrenz, das Koninklijk Concertgebouworkest, spielt im gleichen Saal, und jeder kann vergleichen. Da freut man sich natürlich, wenn die Kritik feststellt, die Philharmonie habe inzwischen den gleichen Standard wie der berühmte Bruder, zumal 14 Jahre Philharmonie gegen ein Jahrhundert der Tradition stehen. Dabei muß man noch berücksichtigen, daß das neue Orchester zwar vom Publikum, von der Presse jedoch zunächst nicht sehr herzlich begrüßt wurde. Die Philharmonie hat aber weit mehr Besucher: manche Programme sind fünfmal hintereinander ausverkauft. Und das bedeutet immerhin fünfmal etwas mehr als zweitausend Besucher bei Eintrittspreisen zwischen 18 und 40 Mark. Das ist für eine Hauptstadt ein ungewöhnlich niedriger Kartenpreis.

Hartmut Haenchen dirigiert Opern und Konzerte. Gibt es für eins der beiden Genres eine Vorliebe? Er möchte eine neue Balance schaffen, bei der er Kammerorchester (Amsterdam und Berlin), großes Orchester und Oper zu etwa gleichen Teilen dirigiert. Das heißt, daß er mehr Konzerte dirigieren möchte. Jetzt aber leitet er im Durchschnitt drei von zehn Premieren im Jahr. Dabei arbeitet die Oper mit allen holländischen Orchestern zusammen. Man wechselt sich auch bei ein und derselben Oper bei Wiederaufnahmen ab. Aber ein großer Vorteil in jeder Serie: kein Musiker wechselt innerhalb einer Produktion. Man hat also von der ersten Probe bis zur letzten Vorstellung die gleichen Musiker zur Verfügung. Das konstituiert einen Standard. Auch die Sänger wechseln nicht; Haenchen kann nicht verstehen, wenn ein Opernhaus darauf stolz ist, dem Publikum bei jeder Aufführung andere Gäste zu präsentieren. Besteht aber nicht doch die Gefahr, daß Haenchen zu viel tut? Sein Programm reicht eigentlich für drei Dirigenten, und gar zu schnell wird Kreativität durch Alltagsroutine zugedeckt. Gerade ein Musiker muß ja irgendwo und irgendwie auch Kraft tanken und Zeit haben, sich intensiv mit solchen Werken zu befassen, die er noch nie dirigiert hat, gleichgültig, ob es sich dabei um tradierte oder neue Kompositionen handelt. Haenchens Gastdirigate halten sich in relativ engen Grenzen. Es gibt Spielstätten, an die er immer wieder zurückkehrte: Covent Garden Opera London, Komische und Staatsoper Berlin. So bleibt Amsterdam das eigentliche Zentrum seiner Arbeit, wo er auch in der Planung auf Kontinuität setzt. Daß er sich mit großer Intensität in Werke einarbeitet, beweisen ausführliche Schriften zu deren Interpretation. Das ist nicht oberflächlich hingeschrieben, sondern das Resultat tieflotender gedanklicher Auseinandersetzung und intensiver Recherche, an die er sich ja schon als Jugendlicher gewöhnt hat. So etwas tut kein Routinier. Und vielleicht trifft auf Haenchens Arbeitsweise das zu, was ein französischer Dirigentenkollege mit dem Satz beantwortet hat : „Il est toujours la premiere fois - Es ist immer das erste Mal", sollte es zumindest sein, auch wenn man ein Werk schon Dutzende Male dirigiert hat. Was freilich nicht heißt, daß man auch immer die Fehler des ersten Mals wiederholen müßte. Es wäre im übrigen recht reizvoll, frühere Schallplatteneinspielungen mit jüngeren Produktionen zu vergleichen. Seine Diskographie weist rund zweihundert Titel auf. Allein das könnte ein Lebenswerk sein.

Mit der Berufung als Generalmusikdirektor an die Oper Leipzig (da zog sich H.H. vor Beginn seiner Tätigkeit zurück) rückt er wieder der sächsischen Heimat näher ohne die Bande zu seiner Wahlheimatstadt Amsterdam aufzugeben. Eine neue Herausforderung zwischen Tradition, Geldmangel und von ihm gewünschten neuen Strukturen.

Vielleicht gibt es ja dann ein Wochenende in seinem Dresdner Haus.