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15. December 2013 · wdr 3

ORFEO Das Opernstudio

Hartmut Haenchen im Gespräch, mit Richard Lorber

22.00 - 23.00 Uhr

Richard Lorber spricht mit Hartmut Haenchen über den Ring in Amsterdam, über Aufführungspraxis bei Wagner, über Aufführungspraxis der Alten Musik und über sein Kammerorchester C.Ph.E. Bach.

Das Interview wird auch als podcast erscheinen. hier

 

Herzlich willkommen zu „Orfeo - dem WDR 3 Opernstudio“ bis 23.00 Uhr, am Mikrofon ist Richard Lorber.

 

Zu Gast ist heute der Dirigent Hartmut Haenchen, der in diesem Jahr seinen 70. Geburtstag gefeiert hat.

 

Hartmut Haenchen ist zur Zeit außerhalb von Deutschland wahrscheinlich der am meisten beschäftigte Wagner-Dirigent. Er dirigiert seit 1998 den „Ring des Nibelungen“ in Amsterdam, er dirigierte „Parsifal“ nicht nur in Brüssel, Kopenhagen und Paris, „Tannhäuser“ in Toulouse und im April 2014 „Lohengrin“ in Madrid.

 

Seine aufführungspraktischen Überlegungen zu Richard Wagner hat er in ausführlichen Aufsätzen festgehalten. Dabei geht es vor allem um Tempofragen. Haenchen plädiert für einen flüssigen, sprachnahen, unpathetischen Wagnerstil. Auch zur Aufführungspraxis Alter Musik hat sich Haenchen immer wieder geäußert. Dabei verfolgt er mit seinem Kammerorchester Carl Philipp Emanuel Bach einen historischen informierten Aufführungsstil, verwendet aber moderne Instrumente.

 

Dieses Orchester etablierte sich in den 80er-Jahren in der DDR zu einem auch im Ausland renommierten Klangkörper. Haenchen wurde zum Leiter gewählt, obwohl er der DDR-Bürokratie als missliebiger Künstler galt und praktisch Berufsverbot hatte. 1986 ging er nach Amsterdam als musikalischer Chef der Oper Amsterdam, bis heute seiner Hauptwirkungsstätte in verschiedenen Funktionen.

 

Herr Haenchen, Sie dirigieren zur Zeit wieder den „Ring des Nibelungen“ an der niederländischen Nationaloper, und da ist das Orchester mitten in der Bühne, es ist fast Bestandteil der Bühne. Das ist ja so ungefähr das Gegenteil des tiefen Orchesters und des abgedeckten Orchestergrabens in Bayreuth.

 

Harmut Haenchen: Wir haben uns die technischen Möglichkeiten des Hauses angeschaut und sind sehr schnell zu der Überzeugung gekommen, dass wir eigentlich nur das Drama aus der Musik sichtbar machen können, also doch durchaus im Sinne von Wagner, aber eben die Musik auch Teil des Bühnenbildes. In „Götterdämmerung“ ist das ja noch relativ harmlos, denn da sind wir sozusagen auf dem Graben. Aber in „Walküre“ und „Siegfried“ vollziehen wir ja sozusagen die negative Kraft des Ringes, das heißt, das Orchester wandert auf der Bühne von rechts nach links und kehrt dann wieder zurück. Es ist richtig auf der Bühnenspielfläche. Bei „Walküre“ auf der rechten Seite und der durchgeschnittene Eschenstamm lässt sozusagen eine Öffnung frei für das riesige Orchester. Und bei „Siegfried“ wandert das Orchester auf die linke Seite und bei „Rheingold“ und „Götterdämmerung“ sind wir über dem Graben, und hinter uns ist dann noch ein Teil der Bühne. Das ist auch wesentlicher Bestandteil des Konzepts, auch des musikalischen Konzepts, dass wir Wagner eigentlich als Kammerspiel spielen.

 

Musik

Wagner, Richard

„Was riet mir sein Wissen“, aus: Götterdämmerung (II)

Foster, Catherine; Rydl, Kurt; Marco-Buhrmester, Alejandro; Nederlands Philharmonisch Orekst: Haenchen, Hartmut

Aufnahme: De Nederlandse Opera

1’13

 

Catherine Foster als Brünnhilde und Kurt Rydl als Hagen und Alejandro Marco-Buhrmester im 2. Aufzug von Wagners „Götterdämmerung“ in der aktuellen Produktion an der Amsterdamer Oper. Hartmut Haenchen leitet das Niederländische Philharmonische Orchester.

 

Hartmut Haenchen ist heute zu Gast in „Orfeo - dem WDR 3 Opernstudio“.

 

Herr Haenchen, bei der „Götterdämmerung“ in Amsterdam befindet sich ein Teil der Bühne vor dem Orchester und ein Teil dahinter. Das hat ganz unterschiedliche Akustiken zur Folge, was die Verständlichkeit und die Präsent der Sänger anbelangt. Gehört das auch zum Regiekonzept und zum musikalischen Konzept, was vorne stattfindet und was hinten stattfindet?

 

HH: Ja, das ist natürlich in enger Zusammenarbeit mit mir überlegt, was vorne und was hinten ist. Es ergeben sich dann natürlich auch sehr schöne Möglichkeiten, zum Beispiel wenn Brünnhilde mit Siegfried im Gespräch ist. Sie kann also vorne an der Bühne stehen, während er auf dem Passarelle steht. Das heißt, sie kann wirklich voll in den Saal singen und muss nicht irgendwo zur Seite singen. Auf der anderen Seite, das Publikum sitzt im Kreis um das Geschehen. Und dadurch ist die Gesamtkonzeption so ausgelegt, dass für jeden irgendwann der Sänger einem direkt vor der Nase steht, sodass man ganz intimen Kontakt zu den Darstellern hat. Und für mich als Dirigent gibt es natürlich die Möglichkeit, einen Sänger anzuhalten, vom üblichen Wagnergeschrei abzugehen und wirklich sehr, sehr kammermusikalisch umzugehen. Und das setzte ich natürlich auch im Orchester um.

 

RL: Sie haben gerade die Szene angesprochen, wo Brünnhilde mit Siegfried diskutiert. Mir ist aufgefallen, als sie den Ring an seinem Finger entdeckt, wie sie das in einer fast rezitativischen, aber erregten Sprache an ihn heranbringt. Und dann kommt hinterher ihr Klagegesang. Der ist auf der rückwärtigen Bühne. Hat das auch was mit den unterschiedlichen Gesangs- und Musikarten zu tun, wie Sie das differenzieren?

 

HH: Naja wir haben schon gesehen, dass diese rezitativischen Stellen, dass die ganz nah ans Publikum kommen und die mehr ariosen Stellen auf die Opernbühne. Also wir haben auch versucht, die Musikstile, die Wagner ja vermischt in genialer Weise, auch optisch umzusetzen.

 

RL: Ich möchte noch mal zurückkommen auf die Frage des auf der Bühne platzierten Orchesters als Bestandteil der Inszenierung und das Gegenmodell des unsichtbaren Orchesters in Bayreuth. Das hat natürlich akustische Konsequenzen in erster Linie mal, aber es hat, wie ich glaube mich auch zu erinnern, an Äußerungen von Wagner, und wie ich es in Bayreuth auch immer erlebe, auch szenische Konsequenzen. Also das Orchester, das verschwindet, zieht den Zuschauer rein in die Szene. Wird das nicht, bei Ihrem Konzept verhindert, dass der Zuschauer in die Dramatik, in das dramatische Geschehen hineingezogen ist, wie es Wagner wollte?

 

HH: Ich muss sagen, ich hab die Produktion natürlich nie gesehen, weil ich immer mitten drin stehe. Aber ich habe immer wieder gehört, dass für viele Menschen das eigentlich außerordentlich spannend ist, zumal der Regisseur, Pierre Audi, auch gesehen hat, im „Siegfried“ wird das Orchester der Wald. In „Götterdämmerung“ ist es das Feuer. Das wird mit Licht gemacht. Es kommt auch Licht aus dem Orchester. Also das Publikum wird hineingezogen in einen optischen Reiz, der aus dem Orchester kommt.

 

RL: Was heißt denn eigentlich, den „Ring des Nibelungen“ als Kammerspiel zu musizieren und aufzuführen?

 

HH: Naja, zunächst heißt das mal, sich an die Quellen heranzuarbeiten, das ist jetzt viel einfacher als zu der Zeit, als wir den Ring das erste Mal machten. 1996 war viel von den Dokumenten, die inzwischen gedruckt sind, noch gar nicht gedruckt. Die Richard- Wagner-Gesamtausgabe bestand nur sehr partiell. Das heißt, das war noch richtiges Quellenstudium. Vor allen Dingen natürlich das Studium der Aufzeichnung der Assistenten, vor allem von Heinrich Porges. Wagner hat ja Porges extra dafür bestimmt, für die Nachwelt aufzuschreiben, was er während der Proben sagt. Und er bestand auch darauf, dass das, was er während der Proben gesagt hat, also nach der fertigen Partitur, dass das Bestandteil der Partitur ist. Das heißt die Partitur ist zwar die Grundlage, aber nicht die alleinige Wahrheit, denn Wagner ist ja auch Praktiker gewesen, auch wenn er selbst nicht dirigiert hat, denn er hat ja Regie geführt, dürfen wir nicht vergessen und viele kleine Dinge geändert. Das sind tausende von Änderungen. Und was die Assistenten aufgeschrieben haben, ist hochinteressant, auch an Tempomodifikationen da kommt immer wieder, dass Wagner sagt: Textverständlichkeit, nicht arioso. Und er bezeichnet sehr, sehr genau, bis hin zum Portamento das, was in der Partitur nicht alles steht.

 

RL: Können Sie das dann alles so im einzelnen umsetzen mit den wechselnden Sängerbesetzungen? Wenn man sich die DVD anguckt mit dem Siegfried Heinz Kruse, da denkt man, man hat einen exzellent deklamierenden Sänger vor sich, wie Wolfgang Windgassen fast. Jetzt ist ein anderer Sänger da, Stephen Gould, der auch schon in Bayreuth heldische Partien gesungen hat. Aber er hat einfach nicht diese Deklamationsfeinheit und Genauigkeit wie ein Heinz Kruse. Wie gehen Sie mit den unterschiedlichen Sängerpersönlichkeiten um, die ja auch unterschiedliche Fähigkeiten in bestimmten Richtung haben?

 

HH: Heinz Kruse lebt nicht mehr, ich kann ihn nicht mehr engagieren. Er war ein wirklich exemplarischer Sänger, der mit dem Text hervorragend umgehen konnte, ganz im Sinne von Wagner. Man hat heute sehr wenig Sänger zur Verfügung, die den Siegfried wirklich singen können. Und ich verstehe Ihre Anmerkung, auf der anderen Seite würde ich sagen, wenn Sie Stephen Gould von Bayreuth hören, wie er das damals gesungen hat und wenn Sie hören, wie er es jetzt singt, würde ich behaupten, ist ein riesen Unterschied. Er ist viel, viel differenzierter geworden. Und in der Serie der Aufführung hat er immer mehr Mut auch stimmlich Sachen auszuprobieren, die für seine viel schwerere Stimme als die von Heinz Kruse, denn er ist ja doch eigentlich der baritonale Heldentenor. Als Dirigent freut man sich natürlich, wenn auch gestandene Sänger, dann absolut bereit sind sich umzustellen und einzustellen auf eine andere Interpretationsweise.

 

Hier ist Heinz Kruse als Siegfried mit der Szene „Dass der mein Vater nicht ist“ aus dem zweiten Aufzug von Wagners „Siegfried“, eine Aufnahme aus Amsterdam aus dem Jahr 1999. Bemerkenswert ist der kammermusikalische Ansatz, das geradezu liedhafte Singen.

 

Musik

Wagner, Richard

„Dass der mein Vater nicht ist“, aus: Siegfried (II, 2)

Kruse, Heinz; Rotterdam Philharmonic Orchestra, Haenchen, Hartmut

Opus Arte

LC 99999

OA 0948D

809478009481

DVD 2, track 9

27’29 - 28’33 = 1‘04

 

Heinz Kruse im zweiten Aufzug von „Siegfried“. Eine Aufnahme des Amsterdamer „Ring des Nibelungen“ 1999, musikalisch geleitet von Hartmut Haenchen.

 

Herr Haenchen, Sie haben davon gesprochen, den „Ring des Nibelungen“ als Kammerspiel aufzuführen. Jetzt ist mir aber aufgefallen, zum Beispiel bei Siegfrieds Rheinfahrt, dass das ein unglaublich differenzierter, aber doch symphonischer Satz ist. Also das ist ein differenziertes ausgestaltetes Forte, aber eben nicht Kammermusik.

 

HH: Ja, in der Kammermusik gibt es auch Forte, würde ich mal sagen. Und natürlich, wo mir es drum geht, dass wirklich die ganze Bandbreite der Dynamik gezeigt wird. Auch im Trauermarsch sind wir nicht leise an den Fortissimo-Stellen. Also ich denke schon, dass ich deutlich machen kann, dass die Höhepunkte auch die Höhepunkte bleiben, und das forte nicht forte ist, sondern wirklich immer in den Relationen, und da gibt es schöne Beispiele von Wagner selber, dass er als in München Teile des Ringes aufgeführt wurden, hat er die Dynamik verändert, die er für Bayreuth wieder zurückgeändert hat. Das heißt, er hat mit dem Raum immer gespielt. Und das ist eigentlich das, was ich hier auch machen wollte.

 

RL: Wenn Sie sagen, Sie berücksichtigen die Aufzeichnungen von Wagner, wie bezieht sich das auf die Aufführungsdauern der Opern insgesamt. Es gibt ja die Tendenz einer Verlangsamung gegenüber den Uraufführungen zu Wagners Zeit und in der unmittelbaren Wagnernachfolge. Das haben Sie in einem Aufsatz dargestellt. Versuchen Sie nun den „Ring“ zügig zu nehmen und setzen sich bewusst ab von Interpretationen wie Toscanini oderFurtwängler? Woraus beziehen Sie Ihre Tempovorstellungen?

 

HH: Auch da hilft natürlich nicht nur die Partitur, sondern da helfen alle Bemerkungen von Wagner. In der Probenarbet hat er seine Sänger immer angehalten, nicht zu schleppen, vorwärts zu gehen, kein Arioso, kein Gesinge, wie er gesagt hat, sondern dass der Sprachrhythmus auch die Tempovorgabe ist. Und aus seiner Kritik auch an der Aufführung von 1876, ergibt sich, dass die Aufführungszeiten damals noch zu langsam waren. Das heißt man, muss leicht unter der Uraufführungszeit liegen, und das ist der Maßstab, zunächst mal. Aber jetzt nicht indem ich immer mit der Uhr daneben gesessen habe, sondern einfach konsequent versucht habe, die Anweisungen von Wagner umzusetzen. Und dadurch entsteht natürlich ein sehr flüssiger Wagner. Es ist ja so, dass bei Toscanini zum Beispiel, der nicht perfekt Deutsch sprach, auch ein paar deutsche Bezeichnungen für ihn Tempobezeichnungen waren, die eigentlich Artikulationsbezeichnungen waren. Zum Beispiel wenn Wagner schreibt „gehalten“, dann bedeutet das eben im italienischen Sinne „tenuto“, aber er hat gehalten immer als langsames Tempo angesehen. Solche Missverständnisse führen dann auch zu extremen Unterschieden, die ja im „Ring“ beinahe zwei Stunden betragen.

 

RL: Aber Sie haben auch gesagt, das hat etwas zu tun, dass durch die Nationalsozialisten ein pathetischer Wagner gepflegt ist. Also dass es nicht nur ihn Richtung Missbrauch-Repräsentationsmusik geht, sondern dass durch die Nazis eine Art Pathos in diese Musik hinein gekommen ist, die sich dann nach dem Krieg fortgesetzt hat. Ist das jetzt ein bisschen vergröbernd dargestellt?

 

HH: (über RL) Nein, nein, nein, ich finde das genauso wie ich das hab eigentlich mehr oder weniger nachweisen können. Für mich ist der Nachweis eigentlich noch größer geworden, nachdem ich dann zum Beispiel Aufnahmen in den späten 30er bis in die 40er-Jahre aus Amerika mir angehört habe, wo die sehr früh aus Deutschland geflohenen Dirigenten eine Wagnertradition fortgesetzt haben, wie sie eben vor den 30er-Jahren in Deutschland war. Und dazu gehört ein Fritz Busch oder ein Leinsdorf, die eben ein sehr, sehr flüssigen Wagner gepflegt haben. Neben dem ideologischen Missbrauch von Wagners Werk, was deutlich zu dieser pathetischen Klangmasse geführt hat, die auch eine Verlangsamung mit sich gebracht hat, ist einfach auch die Tatsache , dass Siegfried Wagner nicht wirklich eh Kollegen aufgebaut hat, wo er das vererbt hat, was er wusste und selbst noch gepflegt hat. Das beweisen auch seine Aufnahmezeiten. Und auch die ganz, ganz frühen Aufnahmen aus den 20er-Jahren sind alle sehr auf Text und Flüssigkeit abgestellt. Also diese Pathetik, die heute noch Wagner anhängt, sage ich mal im negativen Sinne. Aber es gibt Stellen, die sind so, und die nehme ich auch nicht weg, aber das ist nicht durchgehend. Das ist eben der Kontrast. Und um den geht es.

 

Musik

Wagner, Richard

Vorspiel zum 3. Aufzug, aus: Die Walküre

Netherlands Philharmonic Orchestra, Haenchen, Hartmut

Opus Arte

LC 99999

OA 0947D

809478009474

DVD 3, track 1

0’07-1’29 = 1’22

 

Vorspiel zum 3. Aufzug von Wagners Oper „Die Walküre“. Hartmut Haenchen dirigiert hier einen schlanken, geschmeidigen streicherbetonten Walkürenritt in der Aufnahme aus der Amsterdamer Oper 1999.

 

Herr Haenchen, Sie sind ja zur Zeit wahrscheinlich der Dirigent, der Wagners Oper „Parsifal“ am häufigsten und in sehr unterschiedlichen Produktionen als Dirigent mitgestaltet hat. Das geht von Kopenhagen über Brüssel, Paris, Berlin und Amsterdam, alles in den letzten Jahren, haben Sie mit ganz unterschiedlichen Regisseuren zusammen gearbeitet. Romeo Castellucci in Brüssel, Krzysztof Warlikowski in Paris, Keith Warner in Kopenhagen. Bei diesen unterschiedlichen Regiepersönlichkeiten, gibt es da für Sie so eine Art generelle Linie: Also dass Sie z. B. sagen, ich arbeite lieber mit Anhängern des Regietheaters zusammen oder lieber mit Anhängern, die traditioneller inszenieren, wie Keith Warner. Was ist Ihr Verhältnis zum Regieberuf in der Oper?

 

HH: Ja im Prinzip habe ich sehr viel übrig für neue Gestaltungen der Werke. Auch Wagner war ja nie zufrieden mit dem, was szenisch in Bayreuth geschah, wenn man nachliest, wie er sich darüber beklagt. Er hat ja etwas sarkastisch gesagt: Ich habe nun das unsichtbare Orchester erfunden, ich will jetzt auch das unsichtbare Theater erfinden weil ihm das alles nicht genügte. Das heißt, wir müssen schon schauen erst mal, was sagt uns das Werk heute, was können wir dem Publikum damit sagen. Ich habe, wie Sie richtig sagen, sehr, sehr unterschiedliche Handschriften für den „Parsifal“ gehabt und meine Erfahrungen sind auch außerordentlich unterschiedlich. Mit dem einen Regisseur ist es möglich, sich lange zuvor über Konzept, über Richtung zu unterhalten. Auch über ganz praktische Fragen wie Bühnenmusik, oder was machen wir mit dem Blumenmädchen. So da gibt es ja tausend Fragen, die man eigentlich im vorhinein klären sollte. Und ich bin ein Dirigent, der wirklich immer versucht, lange bevor der Regisseur fertig mit seinem Konzept ist, dass ich mit meinem fertig bin. Und das ist bei den genannten Regisseuren sehr unterschiedlich ausgefallen. Der eine will das nicht, oder mag das nicht, oder ist selber eben überhaupt nicht fertig, wenn er zur ersten Probe kommt. Und der andere ist genau vorbereitet oder zumindest wie Castelucci bereit, viele Tage mit mir zusammen zu sitzen, bevor er seine Konzeption erarbeitet, die dann durchaus nicht unproblematisch für den Dirigenten ausgefallen ist.

 

RL: Sie haben gesagt, Sie haben sich mehrere Tage mit ihm zusammengesetzt. Was besprechen Sie da mit ihm?

 

HH: Ich hab mich sehr mit „Parsifal“ beschäftigt, auch mit vielen Details wie Wagner zum Beispiel auch die Tempoverhältnisse unter den Figuren verteilt und solche Dinge. Und das wollte ich auch ein bisschen auf der Bühne wieder zurücksehen. Und Castelucci hat noch nie eine Oper gemacht. Das heißt, in dem Fall muss man Basisdinge des Opernbetriebes erklären. Und da gibt reden wir auch über ganz grundsätzliche Fragen: wo kann in welcher Szene ein Sänger stehen, kann er da hinten sein, kann er da vorne sein, muss er sichtbar sein, gibt es einen Vorhang? Also wirklich technische Details. Oder wie er im dritten Akt diese Menschenmasse auf der Bühne auf einem Rollband laufen lassen wollte, wo ich schon vorher gesagt hab, das wird nicht funktionieren, weil das Lärm macht. Und ich werd mir nicht das Vorspiel vom dritten Akt durch den Lärm einer solchen Maschine kaputt machen lassen.

 

RL: Aber die Menschen laufen ja trotzdem. Laufen sie auf der Stelle?

 

HH: Erst später, erst nach dem Karfreitagszauber. Und darauf habe ich bestanden, weil es da akustisch zu verkraften ist.

 

RL: Sie haben das Vorspiel zum dritten Aufzug „Parsifal“ genannt. Ich hab mir das angehört, und ich habe mir notiert: das musiziert Hartmut Haenchen aus dem Geist von „Tristan“.

 

HH: Ja, das ist richtig. Absolut richtig. Also natürlich in einer ganz anderen Instrumentation, aber inhaltlich aus dem Geist von „Tristan“.

 

RL: Es gibt ja diesen berühmten Satz des Gurnemanz „zum Raum wird hier die Zeit“. Das haben Sie als Motto für Ihre Interpretation genommen. Also ich frage mich immer wie kann man das eigentlich verstehen, wenn man jetzt nicht gerade Einsteins Relativitätstheorie sich vorstellen will, was heißt denn das „zum Raum wird hier die Zeit“? Als Motto für eine musikalische Interpretation.

 

HH: Das ist für mich in „Parsifal“ wirklich die Grundlage und die große Veränderung zu den frühen Werken, ich schließe da „Götterdämmerung“ ein. Die große Veränderung ist, dass Wagner hier viel mehr mit der Pause arbeitet. Also mit einem musikalischen Raum, wo nichts konkretes Hörbares geschieht, wo er dem Hörer überlässt, die Musik weiterzuentwickeln. Denn nach der Pause kommt niemals, im „Parsifal“ nicht ein einziges Mal, das Gleiche zurück. Das heißt in der Pause, in dem Raum, den Wagner gibt, ist die Zeit, um über die Musik weiterzudenken, sie weiterzufühlen, ohne dass man sie hört. Und das finde ich also ein solchen Schritt in die Avantgarde eigentlich, den finde ich so ungeheuerlich. Und deswegen finde ich das als Motto für das Stück „Parsifal“, besser kann man es nicht umschreiben.

 

Hier ist der Beginn des Vorspiels zum dritten Aufzug von „Parsifal“ , dirigiert von Hartmut Haenchen an der Brüsseler Oper 2011.

 

Musik

Wagner, Richard

Vorspiel zum 3. Aufzug, aus: „Parsifal“

Orchestre symphonique de la Monnaie; Haenchen, Hartmut

BelAir Classique

BAC097

LC 99999

3760115300972

DVD 2

Tr.13

1:04’12-1:06’06 = 1’54

 

Vorspiel zum dritten Aufzug von „Parsifal“, dirigiert von Hartmut Haenchen am Théâtre de la Monnaie“, Brüssel 2011.

 

Herr Haenchen, jetzt mache ich einen Sprung in die Alte Musik und auch einige Jahrzehnte zurück und möchte mit Ihnen über „Orfeo ed Euridice“ von Gluck sprechen. Da gibt es ja eine preisgekrönte Schallplattenaufnahme mit Ihnen und dem Kammerorchester Carl Philipp Emanuel Bach. Die ist in Berlin 1988 entstanden. Mir es nicht gelungen herauszufinden, wie diese Schallplattenaufnahme in Berlin in Beziehung steht zur Produktion von Harry Kupfer an der Komischen Oper und was die Umstände dieser Schallplattenaufnahme waren. Jetzt sind wir, Sie merken es, in einem ganz anderen Thema, nämlich in dem Thema, wie Sie als Künstler in der DDR agieren konnten, bzw. mit welchen Schwierigkeiten Sie konfrontiert waren.

 

HH: Es hat schon etwas miteinander zu tun. Ich habe an der Komischen Oper die Produktion dirigiert. Und wir sind damit auch auf Reisen gegangen. Das war auch meine erste Produktion, die ich im Covent Garden in London dirigiert habe. Es war dann so, dass in Berlin überlegt wurde, es aufzunehmen. Und da war die Frage Orchester der Komischen Oper oder mein Kammerorchester. Und für die Schallplatte war ganz klar, dass das mein Kammerorchester sein sollte.

 

RL: Die zentrale Arie, oder die bekannteste, sagen wir mal so, aus dieser Oper ist ja „Che farò senza Euridice“. Wenn man das bei Ihnen anhört, dann ist das ein heiteres Stück.

 

HH: Ja. Das ist auch sozusagen wissenschaftlich nachweisbar, dass das kein Trauergesang ist, sondern es ist wirklich der Künstler, der durch die Trauer zu einer neuen Kunstform gekommen ist. Und wenn man das Stück inhaltlich sich genau betrachtet, geht es ja Orfeo mehr um seine Kunst als um seine Frau. Das klingt jetzt ein bisschen provokant, aber ich denke, dass das wirklich so ist. Man sagt ja immer, bei dem Opernreformator darf man nicht verzieren, aber Guadagni hat auch verziert. Und die Verzierungen sind sogar überliefert. Also das ist der Sänger der Uraufführung. Wir haben auch verziert und sozusagen die Kunstfertigkeit, die Orfeo durch den Verlust erhöht hat, seine eigene künstlerischen Möglichkeiten, die sind hier sublimiert in einer Durtonart. Also man erwartet ja einen Trauergesang wenigstens in c-Moll. Und das ist es halt nicht. Und auch, was aus der Orchestrierung spricht, dieses spiccato, was vorgeschrieben ist, das geht nur in einem bestimmten Tempo. Und daraus ergibt sich schon rein technisch, dass es meistens zu langsam und eben als Trauergesang gesungen wird.

 

RL: Wir haben von Harry Kupfer gesprochen. Als ich mit ihm ein Gespräch hatte vor einigen Jahren, haben wir auch über diese Produktion uns ausgetauscht. Und er hat damals gesagt, er wollte diese Oper „Orfeo ed Euridice“ entmythologisieren aus dem Brechtschen Geiste, aber trotzdem so einen Rest von Mythos natürlich drin lassen. Jetzt ist Harry Kupfer ein Regisseur, dessen Stärken vor allen Dingen sind, einerseits die Aktualisierung, aber auch die psychologisch ganz genaue Personenführung. Wir haben vorher über andere Regisseure gesprochen. Wenn Sie sich jetzt an Harry Kupfer erinnern, wie war die Zusammenarbeit mit ihm? War das sozusagen eine Idealkombination?

 

HH: Also für mich war das absolut die ideale Kombination. Wir haben über zehn Produktionen zusammen gemacht, und ich erinnere mich an keine Produktion, wo wir nicht uns herrlich zusammengerauft haben. Mit Harry Kupfer habe ich den Grundsatz wirklich gelernt: wenn ich nicht fertig bin, bevor er anfängt wirklich über das Stück nachzudenken, bin ich verloren. Das heißt, ich war immer schon komplett fertig mit meiner musikalischen Konzeption, die ich ihm sagen konnte. Und er ist einer der Regisseure, der wenn man also jetzt schon vier Wochen eine bestimmte Sache probiert hat und ich sag zu ihm: aber das funktioniert jetzt musikalisch wirklich nicht, wo er innerhalb von zwei Minuten einen genialen Einfall hat, um das zu verändern. Und auch die konzeptionelle Zusammenarbeit, das war für mich immer der Höhepunkt eigentlich meiner Zusammenarbeit mit einem Regisseur.

 

RL: Von welcher Zeit sprechen Sie jetzt?

 

HH: Ich spreche von den 80er-Jahren. Und das hat sich fortgesetzt. Also meine erste Produktion mit Harry Kupfer war die berühmte, berüchtigte Aufführung von „Lear“ von Reimann an der Komischen Oper, also die DDR-Erstaufführung einer Oper, die in München uraufgeführt wurde. Das war schon provokant damals. Auch das Vorspiel, in dem Kupfer ohne Musik sozusagen den Zustand der Gesellschaft in der DDR auf die Bühne gebracht hatte. Dieses Vorspiel ist ja dann radikal gekürzt worden. Das durfte dann so nicht gezeigt werden. Aber die Aufführung selber hat wirklich große Wellen geschlagen und es gehört zu den Stücken, die immer ausverkauft waren. Das zeigt auch natürlich das Bedürfnis der Bevölkerung in der DDR um solche Stücke, die ganz aktuelle politische Probleme aufgreifen zu sehen und zu hören. Und danach folgte „Giustino“, danach folgte „Orfeo“, und dann haben wir in Amsterdam die Arbeit fortgesetzt. Und das ging dann über „Frau ohne Schatten“, „Meistersinger“ und so weiter. Also wir haben wirklich eine sehr, sehr schöne Zusammenarbeit gehabt, die ich so nur mit Willy Decker und Johannes Schaaf eigentlich noch mal erlebt habe.

 

 

Musik

Gluck, Christoph Willibald

“Che faro senza Euridice”, aus: “Orfeo ed Euridice” (III,1)

Kowalski, Jochen, Kammerorchester Carl Philipp Emanuel Bach; Haenchen, Hartmut

Capriccio

LC 08748

60008-2

CD 2

Track 6

2’39 - 3’30 = 0’51

 

Jochen Kowalski mit „Che farò senza Euridice“ aus Glucks Oper „Orfeo ed Euridice“ in einer ungewöhnlichen Interpretation in raschem Tempo und mit Verzierungen. Eine Aufnahme aus dem Jahr aus dem Jahr 1988 mit dem Kammerorchester Carl Philipp Emanuel Bach unter Hartmut Haenchen.

 

Sie hören „Orfeo - Das WDR 3 Opernstudio“ mit Richard Lorber. Zu Gast ist heute der Dirigent Hartmut Haenchen.

 

Herr Haenchen, Sie sind 1986 nach Amsterdam gegangen. Die Aufnahme von „Orfeo ed Euridice“ war aber 1988 in Ost-Berlin. Wie ging das?

 

HH: Naja, ich habe jetzt gerade vor ein paar Tagen wieder 320 Seiten meiner Stasi-Akte gelesen und erschrak doch schon wieder über Informationen, die ich so nicht hatte. Es ging also darum, dass zu einem bestimmten Zeitpunkt in der DDR die Stasi gesagt hat: also wenn Haenchen im Westen bleibt, dann sind wir einen schlechten Dirigenten und ein politisches Problem los. Und so hat man mich selbst rauskaufen lassen. Honecker hat persönlich mit der Königin vereinbart, dass ich nach Holland gehen darf, unter der Voraussetzung, dass ich 20%, von allem was ich verdiene, an die DDR bezahle. Und man hat, in Amsterdam auch IMs auf mich angesetzt, um zu kontrollieren, ob ich das tatsächlich mache. Wenn ich das nicht gemacht hätte, wäre ich wegen Republikflucht eingesperrt worden, in dem Moment, wenn ich in die DDR zurück kam.

 

RL: Wie ist das eigentlich passiert, dass Sie in Ungnade gefallen sind? Schwerin 1979, was war da passiert?

 

HH: Das Problem war, dass ich immer, und das bin ich auch geblieben, ich gelte als unbequemer Dirigent. Und das bezieht sich auch die Politik, aber das bezieht sich auch auf die Kunst. Also ich bin da nicht sehr kompromissbereit, gebe ich zu. Und in der DDR fing an das Problem, auch das habe ich jetzt noch mal im Detail nachlesen können, dass ich mit 16 Jahren Flugblätter gedruckt habe gegen die sogenannten Wahlen in der DDR. Und man hat denjenigen gesucht, der diese Flugblätter mit einem Stempelkasten gedruckt hat und war ganz nah mir auf den Fersen, aber man hat es mir nicht nachweisen können. Ich meine, wenn das damals dazu gekommen wäre, dass man das mir hätte nachgewiesen, wäre ich wahrscheinlich auch nie Dirigent geworden, weil ich dann im Gefängnis gelandet wäre für viele, viele Jahre. Und so ist das geblieben. Ich bin zweimal exmatrikuliert worden von der Hochschule, weil ich Dinge getan habe, die man nicht tun durfte. Ich hab einmal Schönberg dirigiert, das durfte ich nicht. Und einmal habe ich Studenten animiert, in der Kirche zu spielen, das durfte ich auch nicht. Und das ging so weiter. In Halle wurde ich vom Händel-Fest ausgeschlossen, weil ich den „Messias“ mit einer deutschen Übersetzung vom Bärenreiter-Verlag gemacht habe und nicht mit der von Johanna Rudolph, die in der DDR die maßgebliche Händelforscherin war. Es ging dann bis hin zu einem Prozess wegen Fluchthilfe und so weiter. In Schwerin endete meine Chefdirigentenzeit sehr schnell und abrupt, weil ich mich geweigert habe, Schostakowitschs zweite Symphonie nur teilweise aufzuführen. Die Parteileitung, es war ein Parteiveranstaltung, wollte ausschließlich nur den Lenin-Text, also den Schlusschor haben und nicht den für Schostakowitsch sehr avantgardistischen ersten Teil mit der 12-tönigen Kompositionsweise, die eben verpönt war in der DDR. Und da habe ich mich geweigert, und innerhalb von zehn Minuten war mein Vertrag aufgehoben.

 

RL: Das kann man sich gar nicht vorstellen, wie Sie das jetzt so schildern, wie das tatsächlich zugegangen ist in der DDR. Mit welchen Konsequenzen, auch wirklich existenziellen Konsequenzen man da leben musste.

 

HH: Ja, ich hatte im Grunde Berufsverbot. Ich hatte keinen Pass mehr, ich durfte nicht mehr reisen. Ich war da ein bisschen naiv, muss ich sagen, in Schwerin. Ich hatte einen unterschriebenen Vertrag als Chef der Komischen Oper, der 1979 anfangen sollte. Und ich dachte, naja gut jetzt bin ich in Schwerin raus, aber in ein paar Monaten bin ich dann Chef in Berlin, und das werde ich schon überleben. Aber aus diesen paar Monaten wurden Jahre, weil das Ministerium für Kultur mich dann einbestellte und mir erklärt hat, dass ich wegen politischer Unreife diesen Vertrag nicht antreten kann. Es gab einen einzigen Mann in der DDR, der übrigens Mitglied des Zentralkomitees der SED war, aber offensichtlich in meine Möglichkeiten geglaubt hat und auch mir meine politischen Eskapaden nicht so übel genommen hat, das war Hans Pischner, der Intendant der Deutschen Staatsoper, der hat die Gastdirigate, die ich seit ´71 an der Staatsoper hatte, fortgesetzt und zugestimmt, dass das Kammerorchester der Deutschen Staatsoper Berlin, das spätere Kammerorchester Carl Philipp Emanuel Bach, mich als Leiter wählen durfte. Es war ja damals auch schon eine Privatinitiative, aber er unterstütze diese Privatinitiative der Musiker der Staatskapelle Berlin sehr. Und das Orchester wusste natürlich, dass sie einen sozusagen in Ungnade gefallenen Dirigenten als Chef gewählt haben. Aber es hat nun 34 Jahre gehalten. Das ist schon ein schönes Zeichen. Und nach einiger Zeit, ist die Schallplatte auf uns aufmerksam geworden. Die wurden im Westen, wie wir so schön sagten, verkauft und waren ein Riesenerfolg. Plötzlich kamen aus dem Ausland viele Anfragen für Tourneen für das Orchester. Jetzt hatte man einen Dirigenten, der nicht reisen durfte und ein Orchester, was Geld bringen würde. Die reisenden Künstler brachten ja dem Staat erhebliche Valuta, und der Staat brauchte immer Valuta. Und nach einiger Zeit, einigen hervorragenden Schallplatten, durften wir gemeinsam ausreisen. Das fing dann in Italien an mit vielen, vielen Tourneen und das ging dann Bundesrepublik und dann nach Japan und so weiter. Also wir sind sehr, sehr viel unterwegs gewesen und haben dem Staat sehr viel Geld gebracht. Also das sind so Sachen, die heute kaum noch nachvollziehbar sind,

 

RL: Sie haben gesagt: vielleicht habe ich mich an der einen oder anderen Stelle etwas naiv verhalten, in meiner politischen Aufrichtigkeit, oder meinem politischen Aufrechtgehen. Jetzt gibt es ja andere Dirigenten, wie Kurt Masur, die ja durch die DDR-Zeit durchgekommen sind und in der Wendezeit dann aber auch durchaus politisches Engagement gezeigt haben. Wenn Sie jetzt Kurt Masur gesehen haben, war er sozusagen ein Bruder im Geiste, wie war Ihr Verhältnis zu ihm?

0‘24

HH: Also ich kenne Kurt Masur sehr, sehr gut und auch persönlich. Er war ja der scheidende Chefdirigent der Dresdner Philharmonie, aber er hat noch durchgesetzt, dass ich als Dirigent an die Philharmonie komme, gegen die Staatssicherheit und gegen die eigene Parteigruppe im Orchester. Und das ist schon heftig. Er hat mich auch später nochmal in Leipzig gerettet, wo ich auch diesen berühmten „Messias“ dirigiert habe, der verboten werden sollte. Da habe ich ihn angerufen und habe gesagt, das soll jetzt untersagt werden, weil ich den falschen Text da drunter habe, und da hat er seine durchaus guten Beziehungen spielen lassen und hat das Konzert nicht absagen lassen. Und das eh ist eigentlich geblieben, dass er also Kollegen gegenüber sich sehr, sehr gut verhalten hat, jungen Kollegen gegenüber. Es war später dann ein bisschen schwierig, als ich vielleicht dann etwas bekannter war, aber ich hab ihm sehr, sehr viel zu verdanken. Und natürlich hat er Kompromisse gemacht. Und er hat so viele Kompromisse gemacht, dass er aber eben das Gewandhaus hat hinstellen können. Und das ist immer eine Gewissensfrage, wie weit bin ich bereit, Kompromisse einzugehen oder nicht. Und ich habe einen anderen Weg gewählt, ohne dass ich sage, dass sein Weg falsch ist, und er hat sich in der Wendezeit sehr vorbildlich verhalten und versucht, das Mögliche zu machen. Er wusste das natürlich sehr genau, was das Mögliche war. Aber er hat da wirklich die Grenzen ausgeschöpft.

 

RL: Sie sind Dresdner.

 

HH: Ja.

 

RL: Sie sind bei Rudolf Mauersberger beim Kreuzchor in die Schule gegangen und sie haben viel an der Sächsischen Landesbibliothek geforscht. Beschreiben Sie mal Ihr musikalisches Verhältnis zum Dresdner Musikleben in den 60er, 70er-Jahren, wo Sie studiert haben und Erfahrungen gesammelt haben.

 

HH: Naja, zunächst mal was die Landesbibliothek anlangt, muss ich sagen, das ist natürlich ein ganz besonderes Verhältnis, was bis heute eigentlich geblieben ist. Irgendwann bin ich in die Pubertät gekommen, und ich habe nicht mehr alles geglaubt, was Mauersberger gesagt hat. ich habe ich hochverehrt und verehre ihn noch immer, er ist für mich sicher eine der prägendsten Persönlichkeiten in meinem Leben, der auch den Wunsch Dirigent zu werden sicher befördert hat. Aber interpretatorisch hatte ich dann doch so als ich 13 war, viele Fragezeichen. Was habe ich gemacht? Ich bin in die Landesbibliothek gegangen –

 

RL: Darf ich unterbrechen? Als Sie 13 waren hatten Sie sich die Fragen gestellt?

 

HH: Ja, als ich 13 war, hatte ich die Fragen mir gestellt. Den Schütz und den Bach, was wir so machten, da stimmt irgendwas nicht. Also ich fing dann an, dass ich das Vermögen hatte Partituren sozusagen klingen zu lassen, ohne dass ich sie gespielt habe. Ich meine, Tonträger gab es ja damals für uns sowieso nicht. Und ich hatte da meine Zweifel über die Aufführungspraxis und bin in die Landesbibliothek gegangen und habe einfach die Originalquellen gelesen, also originalen Schulen des 16., 17. Jahrhunderts. 18. Jahrhunderts. Und die liegen da ja alle. Und dann habe ich mich damit beschäftig, von Johann Adolf Hasse einfach mal eine Partitur abzuschreiben aus der Handschrift. Und dann stellt sich natürlich die Frage, ja, was mache ich mit dem Generalbass. Du kannst nicht mal Generalbass spielen. Also habe ich angefangen Heinichens Generalbassschule zu nehmen und habe nach der Originalschule mir den Generalbass beigebracht. Und dann hab ich den Generalbass ausgesetzt. Und deswegen war ich mit 15 ganz sicher, dass ich Dirigent werden will. Mit Mauersberger habe ich dann gestritten, aber ich muss sagen, er war da phantastisch. Er hat mich nur unterstützt weiter zu forschen und hat mir auch dann die ersten Proben gegeben, wo ich dirigieren durfte und mit 15 hatte ich mein erstes Konzert.

 

Eebenfalls in der Sächsischen Landesbibliothek liegt von Johann David Heinichen die Repräsentationsmusik zur Hochzeit des sächsischen Kurfürsten im Jahr 1719 „La Gara degli Dei“ - „Der Wettstreit der Götter“. Diese Musik hat Hartmut Haenchen 2003, also 45 Jahre später in Berlin aufgeführt. Und daraus ist eine CD-Erstaufnahme geworden. Hier ist der Beginn der Arie „Sa quella, che le fasce“.

 

Musik

Heinichen, Johann David

„Sa quella, che le fasce“, aus: „La Gara degli Dei

Kammerloher, Katharina; Kammerorchester Carl Philipp Emanuel Bach; Haenchen Hartmut

Berlin Classics

LC 06203

0300544BC

885470005447

Track 4

0‘00 - 1‘35

Katharina Kammerloher in der Repräsentationsmusik „La Gara degli Dei“ von Johann David Heinichen. Hartmut Haenchen dirigiert hier das Kammerorchester Carl Philipp Emanuel Bach.

 

Herr Haenchen, ihr Kammerorchester Carl Philipp Emanuel Bach steht ja auch im Zusammenhang mit der sogenannten Historischen Aufführungspraxis. Sie haben einen Aufsatz geschrieben: „Der Stil des Kammerorchesters Carl Philipp Emanuel Bach“. Also, Sie hielten es für notwendig den Stil dieses Orchesters zu erklären.

 

HH: Ich stehe auf dem Standpunkt, dass das, was man heute in der Alten Musik macht, eigentlich stilwidrig ist, aus mehreren Gründen. Der erste Faktor ist der Kammerton 415. Den hat es nur an der Sophienkirche in Dresden gegeben, sonst nirgendwo im 18. Jahrhundert. Das heißt, man hat sich auf einen Kammerton für Alte Musik geeinigt, den es so nicht gegeben hat. Man muss sich vergegenwärtigen, dass im 18. Jahrhundert der Kammerton von 378 bis 512 bestand. In dieser Musik, also 17., 18. Jahrhundert, war ja die Affektenlehre einer der wichtigsten Bestandteile überhaupt, um Musik zu machen und dafür war die Tonartencharakteristik sozusagen die Basis. Und wenn man heute eine Tonartencharakteristik festlegt auf 415, die gegen die täglich gehörte Tonartencharakteristik bei 442, sage ich mal, steht, hört man die Alte Musik ständig in der falschen Tonart. Das heißt die Charakteristik der Tonart ist nicht mehr vorhanden. Das Zweite ist die Frage des Vibratos. Ich hab in einem großen Artikel, der zusammenfasst, dass dieses sempre non vibrato vollständiger Unsinn ist. Es hat es so nie gegeben. Und es gibt Versuche jetzt, Wagner aufzuführen mit historischen Instrumenten. Und das ist für mich natürlich vollständig gegen Wagner, weil Wagner derjenige war, wie kaum ein anderer Komponist, der dafür gekämpft hat, andere Instrumente zu bekommen. Das einzige was er von den alten schön fand, waren die Flöten. Alles andere fand er erneuerungsbedürftig. Und selbst die Hörner, er liebte die Naturhörner, aber er selber hat sich korrigiert, obwohl ihm der Klang der Naturhörner nahestand, ihm waren andere Dinge wichtiger. Und er ließ ja eine neue Bratsche bauen und das Englischhorn und die Tuben. Also wir können eine Liste bis hin zur Donnermaschine, die Glockenfrage im „Parsifal“ und so weiter. Also er war derjenige, der den Instrumentenbau vorangebracht hat und gefordert hat. Und jetzt zurückzugehen und zu sagen, wir nehmen die Instrumente, die Wagner zur Verfügung hatte, ist für mich eigentlich Aufführungspraxisunsinn. Und das ist eigentlich die Grundlage meines Kammerorchesters, dass ich sage, wir spielen für Menschen von heute in ein einer Hörgewohnheit, die sie kennen, wir spielen in Sälen mit 2000 Sitzplätzen eine Musik, die eigentlich für einen Raum von, was weiß ich, 50 Sitzplätze oder in Esterhazy noch weniger, gedacht war. Dazu brauchen wir moderne Mittel.

 

RL: Ich folge Ihnen zu 90 Prozent, zu 95 Prozent, möchte aber mal auf eine Aufnahme kommen, und das würde ich mir gerne auch von Ihnen erklären lassen. Wolfgang Amadeus Mozart, Klavierkonzert d-Moll KV 466, der erste Satz. Da gibt es ein schönes Video und auch eine Aufnahme davon, der Pianist ist Stefan Vladar. Da beginnt das Kammerorchester Carl Philipp Emanuel Bach mit einem unglaublich präzisen, dramatischen, artikulatorischen Zugriff. So wie man es eigentlich, wenn Sie es jetzt nicht als Abwertung auffassen, wie man es eigentlich von den besten Ensembles der Historischen Aufführungspraxis kennt. Dann setzt das Klavier ein, und wir haben plötzlich den modernen Konzertflügel, den Steinway. Und, Sie widersprechen gerne, kommt plötzlich eine ganz andere Klangwelt rein. Das bricht für mich klanglich auseinander.

 

HH: Das würde ich nicht sagen, auch aus dem eben genannten Grund. Erstens spielen wir mit modernen Instrumenten, aber ich freue mich natürlich, wenn Sie sagen, dass wir all dieses Wissen der Aufführungspraxis schon umsetzen, eben auch mit modernen Instrumenten. Übrigens möchte ich hier einflechten, für mich eine ganz merkwürdige Erfahrung, die ich mit Harnoncourt hatte, den ich eingeladen hatte zu den Dresdner Musikfestspielen. Sein Concentus Musicus spielt auf alten Instrumenten mit modernen Bögen. Das habe ich auch nicht so richtig verstanden. Er hat es mir zwar wortreich erklärt, aber verstanden habe ich es trotzdem nicht. Ich will damit sagen, wir haben einen modernen Flügel, wir haben moderne Instrumente, mit denen wir spielen. Die einzige Ausnahme, die ich mache, weil ich das stilistisch nicht hinkriege, ist immer die Pauke. Ich nehme also alte Pauken, weil die moderne Pauke mit ihrem sehr langen Nachhall, mit dem großen Kessel, für mich zu sehr verschwimmt. Und ich nehme da auch harte Stöcke, weil das für mich artikulatorisch einfach nicht stimmt. Aber im Falle auch hier, ich meine, wir haben das im Konzerthaus gespielt, das sind 1800 Sitzplätze, ein Hammerflügel aus Mozarts Zeit würde diesen Biss, diese Kraft, die dieses d-Moll ausstrahlt, nicht den Menschen so übertragen.

 

Hier ist ein Ausschnitt aus dem Klavierkonzert d-moll von Mozart mit dem Kammerorchester Carl Philipp Emanuel Bach und dem Pianisten Stefan Vladar.

 

Musik

Mozart, Wolfgang Amadeus

Allegro, aus: Konzert für Klavier und Orchester Nr.20 d-moll K. 466

Vladar, Stefan; Kammerorchester Carl Philipp Emanuel Bach, Haenchen, Hartmut

Euro Arts

LC 99999

2055088

880242550880

Track 6

12’56 -14’34 = 1’38(blenden)

 

Das Kammerorchester Carl Philipp Emanuel Bach unter Hartmut Haenchen und der Pianist Stefan Vladar mit einem kurzen Ausschnitt aus dem Klavierkonzert d-moll K.466 von Mozart.

 

Herr Haenchen, eine Art Pionierarbeit haben Sie ja auch geleistet, als Sie nach Amsterdam kamen. Das Niederländische Philharmonische Orchester gab es vorher noch gar nicht. Es wurde aus mehreren Orchestern fusioniert. Man muss wissen, es gibt in Amsterdam die große Konkurrenz des Concertgebouw Orchesters. Sie waren der Gründungsdirigent dieses neuen Orchesters.

 

HH: Naja gegründet hat es die Politik. Das muss ich dazu sagen. Ich würde solch eine Gründung nie vornehmen. Sie ist unkünstlerisch und hat nur was mit Geld zu tun und mit Kürzungen. Sparmaßnahmen darf man ja nicht sagen, denn sparen kann man nur wenn man viel Geld hat. Ich habe das dann ja noch einmal mitgemacht, und dann habe ich hier aufgehört aus Protest. Aber zu diesem Zeitpunkt wurden drei Orchester zusammengefügt. Es gab aber auch einen künstlerischen Hintergrund, warum man das wollte, weil die Niederländische Oper in diesem Jahr, also 1986 eröffnet wurde. Man darf nicht vergessen, die alte Oper, die hatte 680 Sitzplätze, und wir hatten plötzlich ein Opernhaus mit 1800 Sitzplätzen. Es gibt die schöne Tradition in Holland, die ich sehr liebe, die ich genossen habe während meiner ganzen Chefdirigententätigkeit, dass alle Spitzenorchester von Holland verpflichtet sind, eine Produktion oder mehrere Produktionen zu spielen. Also vom Concertgebouw über das Residentie, Rotterdam und so weiter. Dadurch habe ich an der Oper nicht nur ein Orchester dirigiert, also mein Orchester dirigiert, sondern eben die anderen Orchester auch. Aber der Großteil, 70 Prozent, der Produktionen, dafür war dieses neugegründete Orchester gedacht. Was aber gleichzeitig einen großen Konzertauftrag hatte. Damals, als ich anfing, hatten wir 170 Musiker, und ich habe 200 Konzert ihm Jahr mit dem Orchester organisiert. Ich selbst habe davon 120 dirigiert und 70 Opernvorstellungen. Und ich habe damit auch ganz bewusst mich entschieden, hier diese Aufbauarbeit zu leisten. Und ich gestehe, wenn ich jetzt zurückkomme nach so vielen Jahren und hier eine „Götterdämmerung“ oder einen ganzen „Ring“ dirigieren kann mit meinem in Anführungszeichen Orchester, dann ist das ein großes Vergnügen.

 

RL: Wenn man Ihre Repertoireliste anguckt, dann steht bei Verdi ein einziges Stück, das Sie dirigiert haben. Sie haben mehr im Repertoire, warum diese Zurückhaltung bei Verdi oder beim italienischen Repertoire?

 

HH: Ich finde das ganz traurig. (Lacht) Aber das hat was damit zu tun, dass man immer in irgendeinem Schubfach liegt. Ich möchte also doch in der Zukunft nicht nur noch Wagner und Strauss dirigieren. Nicht, dass ich das nicht gerne mache, ich mache das leidenschaftlich gerne. Aber ich bin jetzt schon ein bisschen zu viel festgelegt, und mir fehlt auch Mozart, und mir fehlt auch Gluck. Ich kriege da praktisch keine Angebote mehr. Aber trotzdem macht es mir natürlich wahnsinnigen Spaß einen „Ring“ wieder zu machen. Ich habe ihn dann 32mal gemacht. Ich glaube es gibt im Moment überhaupt keinen Dirigenten, der sagen kann, er hat 32 „Ringe“ dirigiert. Aber das hat natürlich auf der Gegenseite zur Folge, dass ich keinen Verdi angeboten bekomme. Und ich würde wahnsinnig gerne einen „Otello“ machen, um mal nur eins zu nennen. Ich habe ihn auch studiert, aber ich habe ihn nie dirigiert.

 

RL: Es gibt aber auch von Ihnen etwas zu lesen, wo Sie gesagt haben: ich dirigiere nur die Stücke, wo ich in der Sprache drin bin. Ich spreche jetzt vom französischen Repertoire vielleicht und vom italienischen Repertoire. Meinen Sie da mehr, als dass man jetzt eben gerade den Operntext, das Libretto versteht?

 

HH: Beim Italienischen nicht, weil ich es einigermaßen beherrsche. Aber das Französische nicht. Und im Französischen merke ich, ich habe deswegen auch nur sehr wenig französisches Repertoire dirigiert, merke ich, dass ich das Verhältnis von Musik und Sprache nicht wirklich fühle. Und die französische Musik basiert, wie jede Musik auf der Sprache, auf der Muttersprache des Komponisten, behaupte ich mal. Ich fühle mich da nicht zu Hause. Und ich kann auch, und da wird es für mich dann ganz kritisch, ich kann mit den Sängern nicht an der sprachlichen Feinheit arbeiten, was ich als Dirigent sehr gerne tue. Und da ist mir ein ganzes Stück meines Ausdruckswillens genommen. Und deswegen halte ich mich in der französischen Oper sehr zurück.

 

RL: Stichwort fühlen. Die Musik fühlen, in die Musik hineinkommen. Sie haben auch einmal gesagt: ich kann keine Stücke von Komponisten dirigieren, die sich dem emotionalen Gehalt der Musik verweigern. Wenn man das mal ganz pauschal jetzt sagt, es gibt viele Ausnahmen, aber wenn man es pauschal sagt, ist das ja eine Reserviertheit gegenüber der musikalischen Avantgarde.

 

HH: Jein. (Lacht) Ich behaupte auch nicht, dass ich da irgendeine Wahrheit gepachtet habe, sondern ich muss für mich entscheiden, was ich dirigieren will. Wenn ich Partituren vorgelegt kriege oder lese, wenn ich nicht daraus entnehme, dass der Komponist die Musik gehört hat, bevor er sie aufgeschrieben hat, dann kann ich mit der Partitur schon mal prinzipiell nichts anfangen, weil sie dann rein konstruktivistisch ist. Ich kann das an einem Beispiel machen. Der Bayerische Rundfunk hatte mich eingeladen in der Musica Nova Reihe zu dirigieren, und ich kriegte da Partituren, die waren in Achteltönen notiert. Und da habe ich gesagt: es tut mir leid, ich kann die Achteltöne nicht hören, demzufolge kann ich sie auch nicht dirigieren.

 

RL: Das innerliche Voraushören einer Partitur, ist das nicht eine Gabe, die eigentlich nur wenige Musiker haben, oder ist das eine Voraussetzung für den Dirigentenberuf aus Ihrer Sicht?

 

HH: Aus meiner Sicht ist das eine unbedingte Voraussetzung, weil man sonst überhaupt kein Stück, also selbst das kleinste, keine Symphonie von Carl Philipp Emanuel Bach, oder keinen „Ring“, man kann ihn nicht aufbauen. Wo spiele ich hin? Und ich umschreibe es immer mit drei Filmen. Einen Film muss ich sehen, der ist deutlich voraus, weit voraus, wo ich hin will. Ein Film ist das, was im Moment passiert und der steht in Relation zu dem, was gewesen ist. Also diese drei Ebenen müssen gleichzeitig ablaufen. Und das ist eigentlich Dirigieren für mich.

 

RL: Jetzt sind wir bei Bernd Alois Zimmermann „Die Soldaten“.

 

HH: Genau. Ja, das ist so eins der ganz wichtigen Stücke des letzten Jahrhunderts. Und ich habe das mit großer Leidenschaft gemacht. Ich gebe zu, es ist grenzwertig für einen Dirigenten, zumal ich es ohne Unterdirigenten gemacht habe. Also meistens wird es ja mit vier Dirigenten gemach. Das heißt, ich hab alle Orchester selber dirigiert. Und das ist ein wahnsinniges Abenteuer der Konzentration. Aber eben genau diese Filme, die man haben muss, nicht nur, weil bei Zimmermann auch Filme vorkommen. Ich gehe jetzt nicht auf die Kugelform ein, die Zimmermann immer wieder beschrieben hat. Aber dies dieses Stück ist ein Zentrumsstück. Und ich bin sehr dankbar, dass ich das in Amsterdam vor kurzer Zeit noch mal machen durfte, bevor die finanziellen Kürzungen auch hier zuschlagen werden, weil so ein Stück fast nicht mehr finanzierbar ist.

 

RL: Das Stück überrumpelt, man muss keine Studien betreiben, haben Sie gesagt.

 

HH: Für den Hörer. Sage ich ja übrigens auch für Wagner. Also natürlich ist es schön, wenn man Studien betreibt, aber das ist emotional so packend, und es ist so genau aufgebaut, und da bin ich bei dem Vorausdenken. Also wenn man in den vierten Akt kommt, das darf man nicht vorweg nehmen, was dann da passiert. Deswegen bestehe ich auch darauf, dass die anderen Orchester nicht vom Band kommen, sondern dass das Live-Musik ist und dass dieser Tonbandeffekt, im vierten Akt da obendrauf kommt, eben eine Verfremdung ist. Also das ist so überwältigend geschrieben, dem kann man sich nicht entziehen. Ich muss als Dirigent die Studien betreiben und die Struktur des Stückes ergründen, das haben ja vor mir einige gemacht. Aber was ich als Dirigent arbeiten muss, muss das Publikum nicht arbeiten. Ich muss als Dirigent die Emotionen übertragen auf das Publikum. Wenn mir das gelingt, dann habe ich das richtig gemacht.

 

Musik

Zimmermann; Bernd Alois

Beginn 4. Akt, aus. Die Soldaten

Solisten; Nederlands Philharmonisch Orkest, Haenchen, Hartmut

Aufnahme: Radio 4 (NL)

1:35‘41 - 1:36’58 = 1‘17

 

Der Beginn des 4. Aktes aus Zimmermanns „Die Soldaten“ an der Oper Amsterdam, Leitung Hartmut Haenchen.

 

Das war „Orfeo - Das WDR 3 Opernstudio“, heute zu Gast der Dirigent Hartmut Haenchen.

 

Sie können das Interview mit Hartmut Haenchen auch im Internet nachhören unter wdr3.de, dann weiter zu Podcast.

 

Mitarbeit an der Sendung: Kai Müller und Pia Bornus.

 

Danke fürs Zuhören sagt Ihr Richard Lorber.