Süddeutsche Zeitung, 14. November 2003
Hartmut Haenchen/"Paradisi Gloria"
Fesselnd
"Paradisi Gloria" hat ein Publikum. Das Konzert in der Herz-Jesu-Kirche ist bestens gefüllt, das nächste bereits ausverkauft. Das Rundfunkorchester und die Tölzer Knaben haben diesmal Hartmut Haenchen als Gastdirigent verpflichtet. Mit seinem Berliner Kammerorchester hat er wichtige Impulse für die historische Aufführungspraxis auf modernen Instrumenten gesetzt. Als Chefdirigent in Amsterdam genießt er in den Niederlanden höchste Bewunderung. In München stellte er mit dem d-moll Kyrie KV 341 und den Vesperae solennes de confessore einen rhetorisch durchdachten Mozart vor. Die Herz-Jesu-Kirche ist ein architektonisches Juwel der neuen Architektur in München, aber kein brillanter Konzertsaal. Trotz genauer Phrasierung und sparsamem Vibrato versinken Haenchens Akzente im Forte in einem Klangbrei. Im innigen "Laudate dominum" geht das Konzept auf.
Für Bernd Alois Zimmermanns Kantate "Ich wandte mich und sah alles Unrecht" eröffnet der helle Raum eine neue Interpretationsdimension. Dieses letzte vom Komponisten vor seinem Freitod abgeschlossene Werk rückt so aus dem niederschmetternden biografischen Schatten. Zu entdecken ist eine fesselnde intellektuelle Collage, die Dostojewskis Großinquisitorparabel zu ihren Quellen zurück verfolgt. Zimmermanns Entdeckung: Dostojewskis Helden zitieren die Berichte über die Versuchung Christi in der Wüste aus dem Neuen Testament, die wiederum Texte aus dem Liber ecclesiasticus des Alten Testaments zitieren.
Der Montagekünstler Zimmermann arbeitet so seine Verzweiflung über die Wirkung und die Substanz großer religiöser Kunstwerke heraus. In Wahrheit ist dem Wahren nichts mehr hinzuzufügen. Die Partitur begleitet die Texte nur durch sparsame Gesten: Blechsignale, Klangbänder, Stampfen, Zitate von Bach bis Strauss. Nüchterne Sprecher (Dietrich Fischer-Dieskau, Johannes Hitzelberger) stehen einem Basssolisten (Michael Volle) gegenüber, dessen Linien sich zu ekstatischer Beredtheit steigern. Typisch für die Entstehungszeit (1970), war die Ökonomie der Mittel Zimmermanns Sache nicht. Sein zukunftsweisendes ästhetisches Projekt aber endet nicht mit dem Selbstmord. Es findet zahllose Fortsetzer in Soundkunstwerken, die Montage, Komposition und Hörspiel miteinander verschmelzen. Bei "Paradisi Gloria" gelang eine vorbildliche Aufführung.
Anton Sergl