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Zur Frage der Appoggiaturen

Streitbare Antwort auf einen Artikel der Regisseurin Renate Oeser in der Zeitschrift "Theater der Zeit" , Heft 11/ 1984, S. 52-53

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„Wie halten Sie es mit den Appoggiaturen?“
Antwort in „Theater der Zeit“ Heft 11/ 1984, S. 52-53 auf einen Artikel von Renate Oesers in „Theater der Zeit”, Heft 7/84.

Daß Sie „zutiefst verunsichert" sind, ist zweifellos Ihrem Artikel zu entnehmen, doch beginnt diese Verunsicherung bereits bei der Terminologie. Sie verwenden Appoggiatur offensichtlich als Synonym für „willkürliche Verzierungen" und damit werden die „wesentlichen Manieren" mit den „willkürlichen Veränderungen" gleichgesetzt. Ersteres ist nur im entferntesten Sinne der Improvisation zuzurechnen und nach Auffassung aller Komponisten des Generalbaßzeitalters bis hin zu Ludwig van Beethoven und weiter zu Carl Maria von Weber ein unabdingbarer Bestandteil der musikalischen Wiedergabe, die ja in weit größerem Maße als vielerorts heute noch angenommen wird, von der Sprachmelodie und der Rede beeinflußt war.

Unabhängig davon, ob die Appoggiatur im Rezitativ stillschweigend vom Komponisten vorausgesetzt wurde oder in anderen Formen teilweise - aber eben nur teilweise (hier liegt also der Teil der Improvisation) vorgeschrieben wurde, war die Appoggiatur mitgedacht und um Klarheit der harmonischen Struktur willen, die der Ausgangspunkt für den Continuo-Spieler war, nicht notiert. Sie wegzulassen bedeutet einfach eine Verfälschung der kompositorischen Vorlage. Mir drängt sich die Frage auf, ob die von Ihnen aufgeworfenen Probleme nicht zu der Endkonsequenz führen müssen, ältere Musik überhaupt nicht oder nur grundsätzlich modernisiert aufzuführen oder um es überspitzt auszudrücken, die Sänger müßten heute im Stile Hanns Eislers eine Mozart-Oper singen, wenn die Regie mit Merkmalen des Brecht-Theaters arbeitet. Das ist von Ihnen aber doch wohl (hoffentlich) nicht gemeint. Ihr Vorwurf gegen die Verzierungen rührt daher, daß Sie mit Recht sagen „Motiv der Repräsentation der Technik und der schönen Stimme ist uns kein Musizieranlaß mehr". Ich gebe Ihnen vollständig recht, nur ist die Repräsentation ein Faktor gesellschaftlicher Verhältnisse, die in den Eitelkeiten der Sänger die unglaublichsten Auswüchse gehabt hat (und noch hat) - nur die Form hat sich verändert. Was für Fermaten in Opern von Giuseppe Verdi, Giacomo Puccini, Gioachino Rossini u.v.a.m. tradiert sind, die zur Zeit der Uraufführung nicht üblich waren und sich heute mit Beharrlichkeit halten und dramaturgisch oftmals blanker Unsinn sind, stößt auf keinen Widerstand. Es ist auch einfacher, eine Fermate auszuhalten, als sich musikalisch Gedanken über eine sinnvolle Improvisation zu machen. Die vielen Äußerungen der wirklich bedeutenden Komponisten und Theoretiker der Vergangenheit zielen durchaus in unserem heutigen Sinne auf die Wahrhaftigkeit des Ausdrucks. Doch keiner schüttet das Kind mit dem Bade aus und untersagt jede Form der ausdrucksvertiefenden Improvisation. Ein wirkliches Bild solcher Improvisationen die für meine Begriffe werkzerstörend sind, kann man sich erst machen, wenn man sich eingehend mit der Problematik beschäftigt hat und solche Überwucherungen der "Repräsentation und Virtuosität" einmal gelesen hat, wie z.B. die willkürliche Veränderung der Arie „Digli ch'io son fedele" aus der Oper Cleofide von Johann Adolf Hasse, die Friedrich der II. niederschrieb. Ich wage zu behaupten, daß heute kein Sänger in der Lage ist, diese virtuosen Passagen zu singen, insofern müssen wir vor diesen Formen der Überwucherung im Sinne einer leeren Virtuosität schon aus diesem Grund keine Angst haben. Vergleichen wir das oben genannte Beispiel mit den ebenfalls schriftlich überlieferten Auszierungen der Faustina Bordoni der gleichen Arie, so können wir sehen, wie eine der bedeutendsten Sängerinnen ihrer Zeit im Sinne der Ausdrucksvertiefung improvisierte und dabei ihre stimmlichen Möglichkeiten einbrachte . Hier liegt für mich ein ganz entscheidender Punkt auch für die „willkürlichen Veränderungen": Der Thomaskantor Tobias Michael schreibt in seinem Vorwort zu „Quinta vox": Ich bin „allzeit der Meynung gewesen, die Authores theten besser, wenn sie ihre opera beydes vocalia und Instrumentalia also heraussen gehen ließen, daß sie keine Coloraturen einmengeten oder darzu setzteten, und diss darumb, weil ich selber erfahren, daß, wenn ein geschickter, geübter und qualifizierter Musicis, welcher nicht allein gute naturalia (Talent, HH), sondern ihme auch allbereit eine feine Manier angewöhnt hat, darüber kömmt, daß er dem Stücke mit seiner Art besser helfen und eine Gestalt geben kan, als wann man ihme solches vorschreibet". Heute wird für „abstrakte" Sänger komponiert, damals für „konkrete" Künstler oder es wurde damit gerechnet, daß die Werke für einen den sängerischen Möglichkeiten angepaßten optimalen Ausdruck verändert wurden .

Wenn ich oben sagte, heutige Sänger könnten die Verzierungen Friedrich II. nicht mehr singen, so bedeutet das nicht, daß ich vollständig damit übereinstimme, daß heute kein Sänger mehr improvisieren kann oder nicht über die notwendigen stimmlichen Fähigkeiten verfügt, Koloraturen zu singen. Schon 1913 wurde das von Robert Lach in seinen „Studien zur Entwicklungs-Geschichte der ornamentalen Melopöie" eindeutig belegt. Damit auch der immer wiederkehrenden Meinung entgegengetreten, Improvisationen widersprächen der „volkstümlichen" Musik Händels. Viele Dokumente belegen, daß es positive und negative Erfahrungen mit der Improvisation gegeben hat (und sicher auch immer geben wird) und daß auch im Generalbaßzeitalter nicht alle Sänger und Instrumentalisten diese Kunst zur Zufriedenheit der Komponisten beherrschten. Wer also z.B. Telemanns „komische Veränderungen" seines Liedes „Glückseligkeit" aus der Oper Die verkehrte Welt, 1728 als Karikatur auf schlechte Improvisation zitiert, muß im gleichen Zuge seine Musterbeispiele zum Erlernen einer ausdruckssteigenernden Verzierungstechnik der „Trietti metodichi", 1731 und „Sonates méthodiques", 1732 und seine Appoggiatur-Anweisungen im Vorwort zum „Harmonischen Gottesdienst" nennen. Wer die späten Verzierungsbeispiele Händelscher Oratorien und Opern als Überwucherung anprangert , muß auch die autographe Verzierung der Arie „Dolce pur d'amor l'affanno" nennen, die immerhin 9 Vorschläge, 6 doppelte Nachschläge, 1 Doppelvorschlag, 2 Halbzirkel, 2 Tiraten, 2 Rouladen und 1 Durchgang aufweist, und darüber hinaus auf überlieferte Verzierungen aus seinem direkten Umkreis verweisen. Wer auf den Opernreformator Gluck verweist, muß auch sagen, daß Gluck trotzdem mit Verzierungen gerechnet hat. Gerade durch die Überlieferung der Verzierungen des Sängers der Uraufführung wird eigentlich der Streit um den Charakter der berühmten Arie „Che faro..." wesentlich geklärt. Wer Mozarts Abneigung gegen reine Kehlkopfakrobatik zitiert, muß auch deutlich machen, daß Mozart mit Appoggiaturen nicht nur in den Rezitativen gerechnet hat, sondern auch in den Arien Kadenzen wünschte, ist seinen eigenen Beispielen KV 293 e zu entnehmen, wo er 19 verschiedene Kadenzen für nur 3 Arien von Johann Christian Bach komponierte um der Sängerin die Auswahl für ihre stimmlichen Möglichkeiten zu geben. Dazu kann man die Beispiele in Die Zauberflöte, Don Giovanni, Cosi fan tutte, Die Entführung aus dem Serail oder der Rondo-Arie „Al desio di chi t’adora“ KV 577 heranziehen. Für die vorausgesetzte Improvisation Mozarts als ausdrucksvertiefendes Element steht nicht nur das schriftliche Zeugnis seines Don Giovanni und Grafen, Luigi Bassi, sondern seine eigenen Beispiele „Non so, d'onde viene" KV 294 mit autographer Auszierung und seine Fassung einer Arie aus Johann Christian Bachs Adriano in Siria". Diese wenigen Beispiele sollen nur hier in diesem Rahmen andeuten, daß sängerische Selbstverständlichkeiten aus der Entstehungszeit besagter Werke mit Hinweis auf eine verlorengegangene Praxis nicht einfach eliminiert werden können. Notierte Kadenzen (z.B. „Martern-Arie“) widersprechen ja auch nicht „unserem Verständnis von Musiktheater". Wenn doch, dann wäre meine oben gestellte Frage doch nicht überspitzt.

Die Frage nach dem „schöpferischen Entstehungsprozeß" beim Interpreten, die „zutiefste Berechtigung zu einer Verzierung" hoffe ich durch meine Beispiele, die sich erstaunlich weit fortsetzen ließen, geklärt haben.

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